Über die Spitze des Pfeils hinweg konnte sie das prächtige Geweih des Hirschbullen sehen. Er hatte sie noch nicht gehört oder gerochen und stand daher völlig entspannt vor ihr. Langsam atmete Selma ein und wieder aus. Sie beruhigte ihr Herz, damit sie den richtigen Augenblick nicht verpasste, um den Pfeil von der Sehne schnellen zu lassen. Noch stand der Hirsch nicht im richtigen Winkel zu ihr.
Jetzt würde sie ihn nur tödlich verletzten und ihm in den letzten Minuten seines Daseins höllische Qualen bereiten. Das wollte Selma unter jeden Umstand vermeiden. Wenn sie einem unschuldigen Wesen schon das Leben nehmen musste, um selbst überleben zu können, dann sollte es schnell und schmerzlos gehen. Um das einzuhalten ließ sie auch im Notfall ein Tier von dannen schreiten. Es gab keine Rechtfertigung ein Leben unter Qualen zu beenden, wenn es so unschuldig wie ein Tier war.
Die Sonnenstrahlen, welche durch die Baumkronen der Laubbäume brachen, tanzten auf dem Sandbraunen Fell des Wildtiers. Die leichte Briese die Selmas Geruch weit weg vom Hirschen trug, lies das hohe Grün des Waldes, um seine Beine tanzen. Es war gerade zu ein malerischen Anblick. Stoltz und stark stand er mit seinem Geweih da und schaute gerade aus und horchte auf. Für einen Augenblick glaube Selma, dass sie zu laut ausgeatmet hatte und hielt die Luft an. Kurz danach entspannte sich der Hirsch wieder und begann ruhig zu grasen. Wenn er noch länger so stehen bleiben würde, müsste Selma vorsichtig ihre Position ändern, um in die Ideale Abschussposition zu gelangen. Dann würde sie aber gefahrlaufen, dass er sie entdeckte. Noch konnte sie den Pfeil gespannt halten, lange allerdings würde sie das nicht mehr schaffen. Als würde er auf Zeit spielen und darauf hoffen das Selma die Jagd aufgeben würde.
Allerdings hatte ihre Familie schon seit zwei Wochen kein frisches Fleisch mehr auf dem Tisch gehabt. Sie vermutete, dass es ihren Vater inzwischen zu sehr anstrengte stundenlange Wanderungen durch die Natur zu machen, um dem geeignetem Wild nachzusetzten. Es raubte viel Kraft und Energie auf der Pirsch zu sein. Ihr Vater sagte das zwar nie direkt, aber sie erkannte es an seinem Blick, wenn Selma ihm diese Arbeit abnahm. Er hatte zudem in der Gerberei alle Hände voll zu tun. Seit dem Karlsruhe mehr Leder und Felle für die Technikusse benötigte, hatte er einen größeren Absatzmarkt und konnte sogar seinen Betrieb um zwei Mann erweitern. Dennoch reichte es immer noch nicht kontinuierlich das Fleisch vom Metzger einzukaufen. Die Steuern wurden stehts erhöht, da das Kurfürstentum konstant mehr Geld benötigte, um seine Festungsanlagen zu errichten und das Militär zu verstärken, damit sie den Horden der Hölle her wurden. Einerseits konnte Selma dies verstehen, denn ohne Karlsruhe wären sie vermutlich schon vom Erdboden verschwunden und ihr Dorf wäre zur Wohnstätte von Dämonen und bösartigen Wesen geworden, aber musste es denn so viel sein, dass es für die einfachen Leute nie zum Leben reichte? Die Balance geriet immer mehr und mehr aus den Fugen. Daher hatte Selma die Jagd übernommen. Nachdem ihr Vater vor vier Jahren erkannt hatte, dass sie hervorragend mit dem Bogen umgehen konnte und unglaublich viel Geduld hatte einem Tier nachzustellen, hatte er schnell gehandelt und sie unterwiesen. Am Anfang hatte es einerseits viel Überzeugungskraft ihrer seits gekostet, dass seine kleine Prinzessin so etwas brutales tun durfte und andererseits musste Selma den Schock ihrer ersten Tötung überwinden. Als das erste Mal ein Tier durch ihre Hände starb, hatte sie das traumatisiert. Sie konnte es nur überwinden, nachdem ihr Vater gezeigt hatte, dass die Natur oft grausamer zu sich selbst war. Das wichtigste wäre, nur das zu nehmen was man brauchte und das Tier mit Achtung und Respekt zu begegnen. Danach konnte sie das Erlebnis besser verarbeiten. Inzwischen machte ihr die Pirsch sehr viel Spaß. Das töten gefiel ihr immer noch nicht, allerdings musste sie ihre Familie ernähren und ohne dem Fleisch des Wilds könnten sie die harte Arbeit nicht ohne weiteres durchstehen. Daher nahm sie nur das was sie brauchten, achtete darauf, dass sie keine Hirschkühe nahm und stellte sicher, dass das Tier sofort tot war.
Plötzlich kam Bewegung in die ruhige Szenerie. Der Hirsch erhob ruckartig seinen Kopf und lauschte. Seine Ausstrahlung veränderte sich gravierend. Von der Ruhe vor wenigen Augenblicken war nichts mehr zu spüren. Seine Atmung wurde deutlich schneller und seine Nüstern zogen intensiv die Luft ein. Er witterte etwas. Hoffentlich nicht sie. Selma prüfte den Wind. Er hatte sich nicht gedreht. Sie konnte es nicht sein, den er roch. Aber was war es dann? Es beunruhigte sie, dass er eine andere Bedrohung war nahm. Alles was ihm gefährlich werden konnte, konnte es auch ihr werden. Unruhig verlagerte der Bulle das Gewicht von einem Bein aufs andere. So wie es aussah war er sich unsicher, ob er die Fluchte ergreifen sollte. Dann ein knacken aus dem Unterholz und er sprang mit einem großen Satz davon. "Na toll!" dachte sich Selma, das wäre ihr Abendessen gewesen. Aber was hatte ihn so verunsichert. Ebenso war das knacken auch für sie laut und deutlich zu hören gewesen. Sie senkte den Bogen, ließ den Pfeil aber aufgelegt. Im Notfall könnte sie sich verteidigen, wenn die Gefahr sie ins Visier nahm.
"Knack" noch ein Geräusch aus dem Dickicht. Der Besucher schien näher zu kommen. Nun konnte Selma auch ein leises Knurren vernehmen. Es klang leicht enttäuscht. Vermutlich darüber, dass die Beute es bemerkt und die Flucht ergriffen hatte. Langsam konnte Selma einen gleichmäßigen Schritt wahrnehmen. Von der Art des Ganges schien es ein Vierfüßler zu sein. In Kombination mit dem Knurren lag die Möglichkeit hier in der Umgebung, vorausgesetzt es war ein Tier, lediglich bei einem Wolf oder Hund. Das war ungünstig. Wölfe kamen selten allein. Bei einem Hund gäbe es die Hoffnung darauf, dass irgendwo der Besitzer zu finden war. So hob den Bogen erneut und spannte den Pfeil. Über die dritte Möglichkeit, dass es eine Kreatur der Nacht war, wollte sie sich noch keine Gedanken machen. Sie wäre, in diesem Fall, dem Ungetüm völlig hilflos ausgesetzt.
Noch war der andere Jäger nicht zu sehen. Ab und an glaubte sie ein weiteres Geräusch zu hören, konnte aber nicht ausmachen aus welcher Richtung das Wesen kam. Um sich besser auf diese Geräusche fokussieren zu können, schloss sie die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Erst nahm sie den Wind in den Blättern der Bäume war, dann das Rascheln des Grases. Was ihr nun deutlich bewusst wurde, war dass die Vögel aufgeregt zwitscherten, also sahen sie bereits den Gegenspieler. Sie konzentrierte sich weiter, einatmen und wieder ausatmen. Da, ein leichtes Trapsen, welches sie hören konnte. Ganz leise, es wurde fast vollständig überdeckt. Es schien einige Meter links von ihr zu sein. Je intensiver sie versuchte das Geräusch zu definieren, desto mehr wurde ihr bewusst, dass das Trapsen unrythmisch war. Zusätzlich hörte sie noch ein leichtes Schleifen von Etwas was am Boden entlang gezogen wurde. Weit konnte der Kontrahent nicht mehr entfernt sein. Da dieser aber sein Tempo oder seinen Gang nicht veränderte, ging Selma davon aus, dass das Wesen sie noch nicht entdeckt hatte. Somit öffnete sie die Augen und zielte auf die Stelle, an der das Wesen aus dem Dickicht des Waldes durchbrechen würde. Ihr Herz raste. Verzweifelt versuchte sie den Gedanken niederzuringen, dass ein Monster durch das dichte Grün hindurchschreiten könnte und dann womöglich ihr letztes Stündchen geschlagen hatte. Starr und ohne zu blinzeln stand sie da und hielt den Pfeil gespannt. Diese wenigen Sekunden waren für Selma in diesem Moment Jahrzehnte.
Dann endlich, eine grau-braune Schnauze durchbrach das Grün. Vorsichtig witterte es, ob Gefahr drohte oder es bedenkenlos aus seiner Deckung treten konnte. Anscheinend roch es Selma nicht, denn der grau-braunen Schnauze folgte bald ein Kopf. Es war ein Wolf. Einerseits erleichtert, das es kein Höllenwesen war, schluckte Selma dennoch beim Gedanken daran, dass ein Wolf niemals ohne Rudel jagte. Im besten Fall hatten sie sie noch nicht bemerkt. Wäre das der Fall würde der Wolf nicht seine Deckung aufgeben, sondern sie aus dem Hinterhalt anspringen. Inzwischen stand er komplett ungeschützt vor ihr. Es war ein junger Rüde. Er war sehr abgemagert und nun erkannte sie auch das Problem, warum er anscheinend allein war und abgemagert. Er schleifte seinen linken Vorderfuß mit sich. Er schien gebrochen zu sein und damit war er jagdunfähig und zum Tode verurteilt. Entweder war er vom Rudel verlassen worden, da er zu langsam wurde oder es war ein junger Wolf, der sich auf den Weg gemacht hatte sein eigenes Rudel zu gründen. Letzteres könnte er nicht mehr in die Tat umsetzten.
Man sah ihm deutlich an wie entkräftet er war und welche Schmerzen er durch das Bein erlitt. Sollte sie ihn von seinem Leid erlösen? Die Pfeilspitze zielte auf seinen Kopf genau zwischen Auge und Ohr, an dieser Stelle wäre sein Leiden schnell und schmerzlos beendet. Etwas ließ sie aber zögern. Er kämpfte. Er kämpfte, um am Leben zu bleiben. Er hatte trotz des gebrochenen Beins die Bürde auf sich genommen, den Hirsch jagen zu wollen. Sein Blick war zwar von Qual durchzogen aber dennoch war klar zu sehen, dass er leben wollte. Selma ließ den Pfeil sinken. So konnte sie aber das Tier auch nicht weiter machen lassen. Was sollte sie nun tun. Zielstrebig schleppte sich der Wolf auf den Punkt, im Dickicht zu, an welchem der Hirsch entkommen war. Unbeirrt und unaufhaltsam. Eine Idee machte sich in Selma breit. Sie war töricht und weit ab von jeder logischen Überlegung. Sie würde sich selbst in Gefahr bringen. Aber sie brachte es nicht übers Herz sich einfach abzuwenden. Dieser Wolf hatte so viel Lebenswillen und war noch so jung. Sie wollte ihn nicht sterben lassen. Ihm aber zu helfen in seinem Zustand könnte für sie genauso tödlich sein. Verzweifelt dachte sie nach. Aus Macht der Gewohnheit spielte sie an ihren Taschen. Diese Angewohnheit hatte sie schon als Kind gehabt. Immer wenn sie unter Stress stand mussten ihre Hände an etwas herumzupfen. Plötzlich stießen ihre Finger auf das Dörrfleisch, welches sie dabei hatte, als Wegzehrung. Vielleicht konnte sie ihn damit beschwichtigen und zu sich nach Hause locken. Aber was dann. Vielleicht konnte ihre Mutter helfen. Aber sie war ein gutes Stück weg von zuhause. Sie würde die Fleischstreifen gut einteilen müssen. Ihre Eltern würden sich freuen, anstatt ein Abendessen mit zu bringen, brachte sie ein weiteres Maul, was gefüttert werden musste.
Vorsichtig machte sie sich bemerkbar und zerkleinerte den ersten Streifen in passende Stücke. Der Wolf horchte sofort auf und begann zu knurren. Selma trat ganz vorsichtig aus ihrem Versteck hervor. Sie versuchte so wenig wie möglich aggressiv aufzutreten. Ganz langsam bewegte sie sich vor bis er ein deutliches Zeichen machte, dass sie nicht weiter gehen durfte, denn sonst würde er angreifen. So standen sie also da. Er knurrte sie an und fixierte sie. Selma stand ruhig vor ihm und machte keinerlei Bewegung auf ihn zu oder von ihm weg. Ganz vorsichtig hob sie ihre Hand mit dem getrockneten Fleisch und zeigte es ihm. Er knurrte immer noch, allerdings sah sie, dass er versuchte zu verstehen was sie ihm hin hielt. Ab und an versuchte er den Geruch wahr zu nehmen. Da Selma aber entgegen der Windrichtung stand konnte er das nicht. Also warf sie ihm das erste Stück hin. Erst wich er erschrocken zurück. Daran merkte man wie verletzt er war. Ein gesunder Wolf hätte angegriffen. Aber einem gesunden Wolf würde sie auch nicht versuchen zu helfen. Irritiert stand er vor ihr. Ab und an entfleuchte ihm ein Knurren, jetzt konnte er aber an dem Fleisch riechen. Wenige Sekunden später ran ihm der Geifer am Kiefer entlang. Er hatte großen Hunger. Nach vorsichtigem Schnüffeln, verschlang er das Stück mit einem Haps. nachdem er es verschlungen hatte und sie abwartend aber weit aus weniger aggressiv anknurrte begann Selma beruhigend auf ihn einzureden. Er sollte verstehen, dass sie ihm nichts böses wollte. Dann warf sie das zweite Stück hin. Jetzt schnüffelte er schon weniger und fraß es einfach. Den ersten Streifen verfütterte sie so an ihn. Sobald sie erkannte, dass er mehr wollte und seine Körperhaltung nicht mehr so gespannt war, begann sie die Brotkrumenspur zu legen. Sie zeigte ihm, dass sie ein Stück leckeren Fleisches in der Hand hielt, legte es an den Punkt wo sie stand und ging etwas weiter nach hinten, so dass ein gewisser Abstand zwischen ihnen Bestand und er sich weiterhin sicher fühlte. Er zögerte. Nervös tippelte er auf und ab. Er rang innerlich mit sich. Sollte er der Fährte folgen, die sie legte. Sollte er sich der Gefahr aussetzten in eine Falle zu tappen. Allerdings war dies die erste Nahrung seit langem die er bekam und er hatte sie so dringend nötig. Nach vielen Minuten des Wartens entschied er sich, zum platzierten Stückchen zu gehen und es zu fressen. Mühsam schleppte er sich zu dem von Selma gewünschten Punkt und fraß dankbar den Fetzen. Selma blieb immer in sichtreichweite, jedoch nie so nah, dass er sich bedroht fühlen konnte.
So lockte sie ihn Stück für Stück in Richtung des Dorfes. Zum Glück war ihr Häuschen eher Abseits, damit der Gestank der Gerberei nicht zu sehr zur Siedlung drang. Jedoch roch der Wolf diesen natürlich und machte plötzlich Halt. Das hätte ihr klar sein müssen, dass sobald er, sobald er die Gerberei witterte, er nicht mehr weiter gehen würde. Was sollte sie jetzt tun? Sollte sie gehen und ihre Mutter holen. Sie hatte ein Händchen mit Tieren. Würde er auf sie warten oder verschwinden? Hinzukam, dass sie ihrer Mutter dies dann alles erklären müsste. Diese wäre mit Sicherheit nicht begeistert darüber. Vielleicht konnte sie ihm selbst helfen. Ihre Mutter hatte einige ihrer Kräutertinkturen auf Vorrat bereits angelegt und Selma war inzwischen gut genug von ihrer Mutter unterwiesen worden, sodass sie wusste, was sie bei leichteren Krankheiten den Menschen geben konnte zur Heilung. Vielleicht gelang ihr dies bei diesem Wolf auch. Aber das würde bedeuten, sie müsste jetzt gehen, die Vorräte ihrer Mutter plündern und sich daraufhin dem Wolf wesentlich weiter annähern. Der Wolf musterte sie. Ihm war klar, dass sich nun etwas verändert hatte. Aber was erschloss sich ihm nicht. Auch ihm sah man an, dass er überlegte was er als nächstes tat. Würde er gehen, wenn sie ging, um die Dinge die sie brauchte zu hohlen. Lange standen die beiden so da und sahen sich nachdenklich an. Konnten sie sich gegenseitig Vertrauen? Selma wusste nicht wieso aber sie sprach zu ihm und erklärte, dass sie nur kurz zu ihrem Haus ging und Sachen holte die ihm helfen könnten. Sie würde wieder zurück kommen, er müsste nur auf sie warten. Eindringlich sah sie ihn, in der Hoffnung ein Zeichen von ihm zu erhalten, dass er verstanden hatte, an. Das kam aber nicht. Er starrte sie einfach unverhohlen weiter. Also ging sie langsam ein zwei Schritte zurück, ein kurzes knurren kam von ihm wieder und dann drehte sie sich vollends um. Das Knurren endete abrupt. Anspringen konnte er sie in seinem Zustand nicht und schnell hinter herlaufen auch nicht. Daher verließ sie ihn und ging zur Hütte.
Was sollte sie mitnehmen und was wäre wieder einfach zu ersetzen. Wenn sie sich richtig erinnerte, müsste man bei einem gebrochenem Knochen, den Knochen wieder in die richtige Position bringen und dann mit mehreren Stöcken und einem Tuch das Bein schienen. Sodass der Knochen nicht verrutschte und falsch zusammenwuchs. Das tat aber, laut den Erzählungen ihrer Mutter furchtbar weh. Demnach konnte sie das nicht bei einem Wolf machen, der sie in dem Moment zerfetzen würde. Sie würde es auch als aggressives Verhalten auffassen, wenn sie nicht verstehen würde, was da mit ihr gemacht wird. Folglich müsste sie dafür sorgen, dass er keine Schmerzen erleiden würde. Da wäre vermutlich die Schlafmohntinktur ein gutes Mittel. Den Mohn könnte sie auch auf dem nächsten Markt erneuern und erneute eine Tinktur ansetzten. Sie würde zwar einiges dafür tun müssen in der Gerberei, dennoch wäre es machbar. Dann bräuchte sie nur noch ein langes Stoffband, was entbehrlich wäre, denn sie vermutete, dass der Wolf nicht regelmäßig zum Verband wechseln kommen würde und Stecken die den Knochen in Form halten würden.
Während sie gedankenverloren vor sich hin schritt, bemerkte sie nicht, dass ihre Mutter sie bereits aus dem Stubenfenster beobachtete. Allerdings war sie verwundert, warum ihre Tochter bereits so früh und ohne Wild zuhause war. Ebenso erkannte sie sofort, dass sie über etwas sehr intensiv nachdachte und auf dem Weg zum Vorratslager war. Sie wollte ihr unauffällig folgen, um zu sehen was passiert war.
Selma schob vorsichtig und so leise wie möglich die Türe zum Erdkeller auf. Neben den diversen eingemachten Speisen wurden dort auch Tinkturen, Salben und alles was kalt und geschützt gelagert werden musste verstaut. Die getrockneten Kräuter befanden sich auf dem Dachboden, die Feuchtigkeit im Keller wäre schlecht für diese. Zum Glück müsste sie nicht dort hoch. Sie wäre sich sicher, dass sie dann von ihrer Mutter bemerken werden würde. Sie wusste, dass ihre Mutter bereits eine Schlafmohntinktur hergestellt hatte, sie würde diese mitnehmen und die Menge für ein Kind auf ein getrocknetes Fleischstück tropfen. Zuvor müsste sie noch einmal in sich gehen wie viel das war. Ihre Mutter hatte sie ausdrücklich gewarnt Schlafmohn nicht zu überdosieren, das könnte den Tod des jeweiligen Kundens nach sich ziehen. Vorsichtig nahm sie das Glas mit der bräunlich, öligen Flüssigkeit heraus. Zufrieden mit sich und ihrem Plan verließ sie den Erdkeller wieder und machte sich auf den Weg in die Gerberei. Dort sollten Stofftücher zu finden sein, die keiner mehr benötigte. Verstohlen sah sie sich um, ob ihre Eltern sie entdeckt hatten. Glaubte aber unentdeckt geblieben zu sein.
Leider hatte sich Selma noch nie so extrem geirrt wie zu diesem Zeitpunkt. Möglicherweise war sie zu sehr darin vertieft über die richtige Dosierung des Schlafmohns nachzudenken. Sie wusste es gab einen Leitsatz der die Menge in Abhängigkeit von Größe und Gewicht des Kundens darstellte, aber dieser wollte ihr einfach nicht in den Sinn kommen. Ihre Mutter hatte sich im Schatten des Holzhaufens versteckt. Sie konnte wenn sie vorsichtig war, daran vorbei schauen und ihre Tochter beobachten. Kurzfristig überkam sie leichter Ärger, als sie sah, dass ihre Tochter ohne sie zu fragen, einfach Tinkturen entwendete. Allerdings beruhigte sie den wütenden Geist in ihr. Es hatte sicherlich einen triftigen Grund warum sie das tat. Normalerweise war Selma stehts ehrlich und meist stand hinter ihren Taten ein überlegter Gedanke. Allerdings wunderte sie sich, warum Selma sie dann nicht zu rate zog, anscheinend hatte sie ein Problem bei dem sie jemanden sedieren müsste oder wollte sie sich in einen berauschenden Zustand versetzten. Letzen Gedanken rang sie wieder nieder. Nicht ihre Selma. Dazu hatte sie sie nicht erzogen. Ebenso wenig hatte sie ihr von dieser Wirkung erzählt. Vielleicht sollte sie es tun, damit sie darum wusste und nicht auf dumme Gedanken kam. Was wollte sie nur damit?
Selma lauschte vorsichtig in die Stille der Gerberei hinein. Passenderweise war sie zur Mittagszeit bei ihrer Hütte eingetroffen, was bedeutete, das ihr Vater gerade mit seinen Gehilfen vorne auf der Terrasse saß und mit ihnen eine leckere Mahlzeit aß. Demnach war die Gerberei gerade leer. Also schlich sie durch die Hintertüre hinein und suchte nach einem sauberen Stofflappen, den sie zerreißen konnte. Anscheinend hatte ihr Vater vor kurzem wieder neu Sortiert und nichts lag mehr da, wo sie es gewohnt war. Verzweifelt Schritt sie Zimmer um Zimmer ab und bekam bereits Angst, dass ihr Vater jeden Moment hineinkam und sie sich erklären müsste. Aber am Ende war das Schicksal mit ihr. Sie fand einen im letzten Zimmer. Dort hatte er wohl nun die ganzen Tücher, zum trocknen der Hände und reinigen der Oberflächen, verstaut. Sie schnappte sich zwei und schlich wieder hinaus.
Ihr Mutter war nun wieder ins Haus gegangen und schaute Vorsichtig vom Waschraum auf die Rückseite der Gerberei. Als ihre Tochter mit zwei Lappen heraus Schritt, war sie vollends verwirrt. Wofür brauchte sie eine Opiumtinktur und Lappen. Noch fehlten ihr genügend Hinweise, um sich daraus einen Reim machen zu können. Sie würde sie folglich weiter verfolgen und prüfen was sie tat.
Selma ging zufrieden mit sich und ihren Taten weiter. Nun würde sie nur noch einige gerade Stöcke benötigen. Sie müssten sehr stark sein, damit der Wolf sie nicht brechen konnte. Sie hoffte sehr, dass er die Stöcke nicht zerbeißen würde. Aber wenn dem so wäre hätte sie ihr Bestmöglichstes getan, um ihm zu helfen. Wenn er sich selbst sabotierte, konnte sie nichts dafür. Sie ging also zu dem Haselnussstrauch und schnitt, mit ihrem Jagdmesser einen starken Ast ab. Diesen teilte sie in vier passende Stücke, bei denen sie schätzte, dass sie der Länge des unteren Beins des Wolfes entsprachen. Bei Bedarf könnte sie sie kürzen. Damit wollte sie nun wieder zurück zum Wolf gehen. Sie war gespannt, ob er auf sie gewartet hatte und das Stück Fleisch mit Opium fressen würde.
Nachdem Selma Stöcke aus dem Haselnusstrau geschnitten hatte, verstand ihre Mutter so langsam wo der Schuh drückte. Äste und Tücher zum fixieren eines Bruchs und das Opium, damit derjenige den sie versorgte keinen Schmerz beim Knochenrichten fühlte. Hoffentlich hatte sie sich gemerkt, wie sie das Opium dosieren müsste. Sonst hätten sie bald ein sehr großes Problem. Neugierig schlich ihre Mutter ihr im Dickicht nach. Sie wollte sehen, wen sie im Wald verarztete und wie sie sich machte. Zudem, sollte sie die Dosierung falsch wählen, könnte sie eingreifen. Mit dieser Erkenntnis, konnte sie den Sturmgeist, der ihre Tochter verfluchte, in ihr unterdrücken. Es war ein ständiger Kampf, dass er nicht die Oberhand erhielt. Da ihre Tochter anscheinend jemanden helfen wollte, gab es keinen Grund für sie selbst wütend auf Selma zu sein und somit konnte sie den Teufel in ihrer Brust zum schweigen bringen. Warum sie ihr dennoch nicht Bescheid gab und heimlich die Vorräte nahm, verstand sie dennoch nicht.
Selma prüfte noch einmal die Umgebung, sie hatte geglaubt einen zerbrechenden Ast hinter sich gehört zu haben. Nicht das einer ihrer Eltern sie inzwischen doch gesehen hatte. Aber sie sah niemanden.
Ihre Mutter war schnell und lautlos von der Hütte weg hin zum Wald gehuscht, dabei war sie über einen kleinen Ast gelaufen, der währenddessen zerbrochen war. Sie sah aus dem schützendem Grün heraus, dass ihre Tochter sich nervös umblickte. Selmas Mutter verhielt sich ganz ruhig in der Hoffnung, dass ihre Tochter auch zu Ende brachte was sie angefangen hatte und sich nun nicht durch so etwas ablenken ließe. Wenn jemand geheilt werden musste, könnte das nicht wegen so etwas warten.
Wenn ihre Eltern sie gesehen hätten, wären sie schon längst auf sie zu gegangen und hätten sie gefragt, was sie mit den Lappen, Stöcken und Vorräten in ihrem Arm anfangen wollte. Zudem war es ihr viel zu wichtig dem Wolf zu helfen. Also drehte sie sich um und ging in den Wald zu der Stelle, an der sie den Wolf allein gelassen hatte. Dort stand er aber nicht mehr. Enttäuscht ließ sie die Schultern hängen. Sie hätte ihm gern geholfen. Sie wollte sich schon wieder abwenden, da hörte sie ein leises Rascheln und plötzlich trat er aus dem dichteren Grün hervor. Er hatte sich bloß versteckt. Demnach musste er sie irgendwie verstanden haben. Wieso sonst war er dort geblieben. Ihre Mutter konnte auch mit Tieren kommunizieren. Selma wollte das unbedingt lernen. Allerdings erklärte ihr ihre Mutter immer, dass man dafür eine spezielle Gabe benötigte und sie war sich sehr sicher, dass Selma diese nicht von ihr geerbt bekommen hatte. Vielleicht irrte sich aber ihre Mutter. Selmas Herz hüpfte vor Freude bei diesem Gedanken. Vielleicht wäre es für sie doch möglich mit Tieren zu sprechen. Erfreut drehte sich Selma zu ihm um und wollte sich schon abrupt annähern. Das Knurren, welches daraufhin aus seiner Kehle drang machte ihr klar, das er noch nicht so weit war. Sie blieb auf der Stelle stehen und sprach im ruhigen Tonfall auf ihn ein, so dass das Knurren wieder nachließ. Was sollte sie nun tun. Ihm einfach das in Opium getränkte Fleisch hinwerfen in der Hoffnung, dass er es fressen würde. Er würde riechen, dass etwas am Fleisch nicht stimmte. Aber wie sollte sie es sonst machen. Aus ihrer Hilflosigkeit begann sie dem Wolf zu erklären, was sie vorhatte. So wie sie es einem Kind erklären würde. Sie erwartete nicht, dass der Wolf verstand was ein Schmerzmittel ist, deshalb hielt sie ihre Ausführungen so einfach wie möglich.
Selmas Mutter stockte der Atem, als sie sah, dass hinter ihrer Tochter ein Wolf, aus dem dichten Grün, auftauchte. Allerdings stellte sie verwundert fest, dass Selma nicht langsam davon ging, sondern erfreut auf ihn zuschritt, bis er sie anknurrte. Was ging hier vor sich. Sie sah, dass Selma etwas hilflos, in der wunderlichen Situation, wirkte. Aber nicht weil sie Angst hatte. Eher weil sie näher an ihn heran wollte, aber nicht wusste wie. Ihre Mutter musterte die Szenerie weiterhin mit Sorge um ihre Tochter. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, da der Wolf ihre Tochter nicht in Stücke zerreißen würde betrachtete sie diesen näher. Er war deutlich abgemagert und wirkte sehr schwach. Der Grund dafür wurde klar, als ihr Blick weiter über seinen Körper streifte. Er hatte ein gebrochenes Bein. Damit erschloss sich Selmas Mutter wen ihre Tochter versuchte zu verarzten und warum sie es heimlich tat. Sie wollte dem Wolf helfen. Das könnte ihr das Leben kosten, wenn sie versuchte ihm die Knochen einzurichten. Da keimte erneut die Panik in ihr auf und sie war kurz davor einzuschreiten. Da schlich sich ihr aber ein Gedanke ins Bewusstsein ein, deswegen hatte sie das Opium aus dem Keller geholt. Gutes Kind. Sie wollte den Wolf zuvor betäuben, daher auch der Versuch näher an ihn heran zu kommen. Aber wie wollte sie den Wolf dazu bewegen, dass er die Tinktur zu sich nahm. Plötzlich begann Selma mit dem Wolf zu sprechen. Sie beruhigte ihn. Langsam begann sich das Rückenfell zu legen. Ihre Worte zeigten Erfolg. Würde sie aber versuchen sich erneut anzunähern, würde er wieder in eine Abwehrhaltung gehen. Sie war gespannt wie sie dem Wolf die Tinktur verabreichen wollte. Plötzlich begann Selma dem Wolf zu erklären was sie vor hatte. Da wurde ihrer Mutter schwindelig. Hatte sie die Gabe mit Tieren zu sprechen. Wenn würde das bedeuten, dass auch in sie ein Sturmgeist gefahren war. Das konnte nicht sein, dass hätte sie doch bemerkt. Panisch beobachtete sie weiter und suchte nach Beweisen, dass dem nicht so war. Diese wurden ihr aber zum Glück bald geliefert. Selma sprach zwar mit dem Tier, allerdings wirkte es nicht wie ein Dialog, sondern ein Monolog, in welchem der Sprechende hoffte, dass sein Gegenüber ihn verstand. Selmas Mutter atmete auf. Also war ihre Tochter nicht den Dämonen, die sie plagten, in einem Schwachen Moment verfallen. Sie hatte es ihr nie erzählt. Genaugenommen hatte sie es kaum jemanden erzählt. Wie sollte man auch, in einer Zeit in der Hexen, Dämonen und alle anderen Höllenkreaturen den Landstrich verwüsten und ihre Opfer fordern, erklären, dass es Hexen gab, die den Sturmgeist, in ihrem Geist, im Griff haben und die ihnen dadurch zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzten um Gutes zu tun. Es würde jeder in Angst und Schrecken vor ihr davon laufen und ihr die Inquisition oder Hexenjäger auf den Hals hetzten. Der Einzige der es wusste war Baptist. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht ihm ihr Geheimnis zu verschweigen, als er ihr seine Liebe gestanden hatte. Wenn er wirklich mit ihr zusammen sein wollte, musste er auch diesen Teil an ihr kennen und akzeptieren. Denn so sehr sie die düsteren Gedanken, die ihr der Sturmgeist oft zuflüsterte hasste, so sehr liebte sie es, mit den Fähigkeiten, die dieser ihr vermacht hatte, anderen Personen oder Wesen zu helfen. Der Sturmgeist war der Preis den sie bereit war dafür zu bezahlen. Allerdings gerieten natürlich alle die sie liebten dadurch in Gefahr. Entweder durch die Jäger oder auch durch schwarze Hexe, die sie wiederum jagten. Und eines war klar, Letztere würden ihre Familie wohl kaum verschonen. Dies alles sollte Baptist wissen. Damit er die ganze Tragweite kannte, bevor er sie ehelichte. Sie hatte damals nicht daran geglaubt, dass er noch ein Wort danach mit ihr sprechen wollte. Zu ihrer großen Überraschung, war er nach einigen Tagen Bedenkzeit und intensiven Gesprächen die er von sich aus angesprochen hatte, davon überzeugt, dass sie die selbe Frau war, die er liebte und heiraten wollte und es ihm egal war, wenn sie gejagt wurde. Für sie würde er mit ihr Flüchten oder sie schützten so weit es in seiner Macht stand. Das hatte ihr Herz mit Freude und Hoffnung erfüllt. Und vier Jahre später, nachdem er sich einen sicheren Verdienst aufgebaut hatte an einem abgelegenen, sicheren Ort, hatten sie beschlossen ein Kind zu bekommen. Dies war ihre Selma. Gedankenversunken starrte sie einfach vor sich hin und übersah beinahe, dass Selma dem Wolf nun die Opiumtinktur auf ein Stück Trockenfleisch träufelte. Währenddessen erklärte sie ihm, in einem schon fast beschwörendem Tonfall, dass er es unbedingt essen musste und er sich nicht fürchten sollte, dass er danach müde werden würde. Sie würde ihm nichts antun, in der Zeit in der er schlief und auf ihn aufpassen. Selmas Mutter hörte die letzten Worte von ihr noch bevor sie ihm den Fleischfetzen hinwarf. Sie hoffte sehr, dass sie es richtig dosiert hatte. Sonst würde der Wolf zu führ aufwachen oder gar nicht mehr. Zu früh wäre das gefährlichere Problem.
Es war so weit, Selma wusste, dass wenn sie ihn betäuben wollte, es nun sein musste. Besser würde der Zeitpunkt nicht werden. Intensiv überlegte sie kurz noch einmal über die Formel für die Dosierung nach und hoffte, dass sie stimmte. Er dürfte weder zu früh aufwachen noch gar nicht mehr. Ein zwei Mal ging sie den Wortlaut und ihre Berechnung noch einmal durch und träufelte die entsprechende Menge auf das Dörrfleisch. Dann kam der Moment der Entscheidung. Würde der Wolf das Fleisch essen. Sie warf es ihm hin. Zuerst ging er erfreut auf das Stück zu zögerte aber dann natürlich, als er den fremdartigen Geruch wahrnahm. Er blickte das Fleisch an. Dann wieder Selma. Unentschlossen und unsicher tippelte er auf seinen gesunden Beinen hin und her. Dann warf er Selma einen letzten Blick zu. Ein Blick der sagte, ich vertraue dir, aber bitte lass es mich nicht bereuen. Als hätte Selma verstanden, nickte sie ihm nur zu. Daraufhin verschlang er das Stück mit einem Haps und kurze Zeit später lag er schlafend am Waldboden. Selma ging zu ihm hin und prüfte Vorsichtig, ob sein Atem konstant blieb. Zusätzlich testete sie behutsam am gebrochenem Bein, ob er wirklich nichts mehr spürte, in dem sie es einfach anhob. Normalerweise müsste das sehr schmerzhaft sein und würde er noch etwas spüren, würde er dadurch wach werden. Dem war aber nicht so. Also begann sie ihr Werk.
Ihre Mutter hatte ihr versucht alles was sie über den menschlichen Körper wusste beizubringen. Allerdings war das Wissen über das Innere eines Menschen sehr spärlich vorhanden, da es von der Kirche aus verboten war eine Leiche zu öffnen und zu untersuchen. Angeblich würde man dann nicht ins Himmelreich finden. Ihre Mutter hatte deutlich gemacht, was sie davon hielt. Man würde so viel Wissen verschenken, was einem in der Medizin wirklich helfen würde. Dadurch hätte man so vielen helfen können, dass sie eben nicht erst in jenes Himmelreich vor ihrer Zeit gehen müssten. Zum Glück für Selma, war Knochenrichten nicht so ein großes Problem. Viele Knochen konnte man von außen ertasten und damit wusste man ungefähr, wie der korrekte Aufbau des Skelettes sein sollte. Allerdings hatte Selma noch nie den Aufbau eines Wolfes studiert, geschweige denn schon einmal einen Knochen von einem solchen gerichtet. Also untersuchte sie erst einmal das gesunde Bein. Sie tastete das gesunde Bein vorsichtig ab und untersuchte genau wie der Knochen verlief, bevor sie überlegte, wie das gebrochene Bein wieder richtig zusammen setzte müsste. Nach dem sie ausreichend das gesunde Bein untersucht hatte, tastete sie das gebrochene Bein ab. Dabei viel ihr auf, dass der Bruch frisch sein musste, da es sich noch nicht so anfühlte, als würde er bereits wieder zusammen wachsen. Anscheinend war der Knochen in zwei Teile gebrochen, die sich leicht gegeneinander verschoben hatten. Also musste sie die auseinander gebrochenen Knochen auseinanderziehen und ordentlich zusammensetzten. Noch einmal prüfte sie den Atem des Tieres, es schien alles in Ordnung zu sein. Der Brustkorb hob und senkte sich in einem ruhigen Rhythmus. Sie würde es einfach schnell und ordentlich machen. Dann wäre der Moment des ärgsten Schmerzes schnell vorbei. Sie hoffte dass das Opium ausreichte, den folgenden Schmerz zu verhindern. Mutig griff sie nach dem gebrochenen Bein. Umfasste jeweils die gebrochenen Enden und zog mit aller Kraft die Teile auseinander, sodass sich die Bruchkanten wieder übereinander befanden. Kurz zuckte der Wolf, aber danach blieb er regungslos und ruhig atmend liegen. Selma war verwundert, dass er überhaupt gezuckt hatte, also ließ sie das Bein kurz los und öffnete ein Lied um zu prüfen, ob die Augen auf das Licht reagierten. Nichts keine Regung. Damit sollte alles gut sein. Also fuhr sie fort in ihrer Arbeit. Sie prüfte noch einmal das Bein, ob die Knochen nun richtig saßen und ob es sich genauso wie das gesunde Bein anfühlte. Nachdem sie sicher war, dass alles passte, nahm sie die Lappen und schnitt sie in längliche Streifen. Einen Teil der Streifen legte sie unter das Bein, dann legte sie sorgfältig die Stöcke darüber und als Innerste Schicht benutzte sie erneut die Lappenstreifen und wickelte diese zuerst, um das Bein als erste Stabilisierung. Die Stöcke versuchte sie so eng wie möglich mit den Tüchern zu verzurren. Ganz zufrieden war sie noch nicht mit ihrem Werk. Sie hatte Angst, dass es verrutschte. Also entschied sie sich ihr Seil zu opfern, welches sie noch einmal zur Befestigung um die Stöcke und das Tuch wickelte. Am Ende war sie zuversichtlich, dass der Wolf nur mit sehr viel Mühe die Schiene lösen könnte. Jetzt hieß es warten, bis er wieder aufwachte. Regelmäßig überprüfte Selma seinen Atem und seine Temperatur über die Ohren. Sie war sich nicht sicher, wie warm ein Wolf sein sollte, daher nahm sie ihren Mantel und deckte ihn vorsichtshalber zu. So wartete sie und passte wie versprochen auf ihn auf, während er betäubt vor ihr lag.
Selma machte sich gut. Ihre Mutter war sehr zufrieden und sehr überrascht darüber, wie gut ihr der Wolf vertraute. Es gab diesen einen Moment, als der Wolf ihr tief in die Augen sah und man deutlich erkannte, dass er sie mahnte sein Vertrauen nicht auszunutzen. Er legte schließlich sein Leben in ihre Hände und dass dies ein Wildtier tat, war so selten wie die Überreste eines heruntergefallenen Sterns zu finden. Selmas Mutter überlegte angestrengt, ob sich manche Gaben durch die Schwangerschaft ansatzweise auf ihre Tochter übertragen hatten, ohne dass sie einen Sturmgeist in sich trug. Es schien nicht das Selbe zu sein, wie wenn Coline mit einem Tier sprach. Aber dass ein Wolf dieses Wagnis einging, sprach dafür, dass er sie auf einer anderen Ebene verstand. Sie würde es wohl vorsichtig mit Selma herausfinden müssen. Wie wusste sie noch nicht. Aber das wäre nun ihre Aufgabe. Sollte Selma angeborene Fähigkeiten einer Hexe besitzen, ohne dass sie einen Sturmgeist in sich trug, hätte das folgeschwere Konsequenzen und wäre interessant zugleich. Sie wäre eine neue Art Mensch, der besser gewappnet wäre als der Rest, gegen die Ausgeburten der Hölle zu agieren. Als der Wolf eingeschlafen war, machte sich Selma fachmännisch ans Werk. Coline war mit Stolz erfüllt als sie sah, wie zielstrebig, überlegt und geschickt sie vorging. Damit stand fest, dass sie Selma nun auch allein zu den einfachen Fällen schicken und in ihrer Ausbildung fortfahren konnte. Wie führsorglich sie den Wolf am Ende zudeckte. Aus ihr war wirklich eine kluge junge Frau geworden, die das Herz am richtigen Fleck hatte. Lange überlegte sie, ob sie sich zeigen sollte, während Selma wartete, dass der Wolf aufwachte. Allerdings entschied sie sich, dass Selma sich erst einmal, um ihren Patienten kümmern sollte ohne in die Verlegenheit zu kommen, sich erklären zu müssen. Sie würde ihr später offenbaren, dass sie genau Bescheid wusste. Zusätzlich würde Selma den Wolf pflegen müssen. Dies schien dem Mädchen noch nicht klar zu sein. Aber vermutlich würde ihr das schon noch bewusst werden, wenn sie sah wie hilflos der Wolf in seinem aktuellen Zustand, auch nach der Behandlung, war. Zur Vorsicht würde sie aber versteckt mit ihr warten. Nicht dass der intensive Schmerz, den der Wolf nach dem aufwachen verspürte, ihn aggressiv machte und Selma attackieren wollte. Also wartete sie im Verborgenen mit ihrer Tochter.
Es musste fast eine Stunde vergangen sein, da kehrte langsam Bewegung in den Wolfskörper zurück. Erst ein leises Winseln, dann ein Zucken der Hinterbeine, bis er schließlich die Augen öffnete und völlig vernebelt zu ihr herüber sah. Die Verletzung schmerzte nun deutlich mehr, da sie den Knochen verschoben und den Bruch fixiert hatte. Das war mit Sicherheit sehr unangenehm. Selma hoffte, dass der Wolf verstehen würde, dass das alles zu seinem Besten war und sie ihn nicht quälen wollte. Langsam schaute er über seine linke Schulter, um zu sehen was auf ihm lag. Der Mantel, wärmend und schützend hüllte er ihn ab seinen Schultern ein. Er strahlte, trotz des Schmerzes, Dankbarkeit aus. Ebenso als er sein geschientes Bein näher betrachtete. Es war nun wieder so wie es sein sollte, auch wenn drum herum Äste mit einem Tuch und einem Seil fixiert waren. Erschöpft ließ er seine Schnauze auf den Waldboden sinken und machte die Augen erneut zu. Er war so hilflos. So könnte sie ihn in diesem Zustand nicht allein lassen. Aber was sollte sie tun. Sie konnte schlecht die ganze Zeit bei ihm warten. Ebenso musste er etwas fressen. Sie hatte ja nicht einmal für ihre Familie etwas Wild erjagen können. Aber würde sie ihm jetzt seinem Schicksal überlassen, hätte sie sich die ganze Mühe sparen können. Also müsste sie ihren Eltern wohl beichten, dass sie nun einen Wolf pflegte. Was würden diese wohl dazu sagen? Sie hoffte, dass sie sie überzeugen konnte, dass der Wolf zur Pflege bei ihr bleiben durfte. Außer er wollte gar nicht bleiben. Sie würde es sehen. Nach und nach kam der Wolf immer mehr zu sich, gleichzeitig kam der Schmerz zurück. Er schwankte zwischen einem Knurren und einem Winseln. Es war ein herzzerreißender Anblick. Sie wollte ihm irgendwie die Schmerzen lindern, aber wusste, dass das Opium hierfür nicht das geeignete Mittel war. In ihrer Verzweiflung versuchte sie ihn zu beschwichtigen, in dem sie ihm einen weiteren Fetzen Trockenfleisch hinwarf. Er schnüffelte, sah sie verwirrt, dennoch Dankbar an, konnte aber nichts fressen. Sie nickte als Zeichen, dass sie verstanden hatte, dass das nicht sein Problem war. Krampfhaft überlegte sie, welches Kraut gegen Schmerzen half. Sie wusste, dass es eins gab und ihre Mutter hatte es einem Jungen aus dem Dorf gegeben, der sich den Knöchel verstaucht hatte. Es war braun und man musste es aufkochen und einen Sud daraus machen. Irgendetwas mit B. Da kam ihr ein Geistesblitz. Es war Baldrianwurzel. Baldrian besaß eine schmerzstillende Wirkung. Da diese Wurzel aber im Trockengestell im Dachboden aufbewahrt wurde, musste sie nun wohl oder übel ins Haus und würde vermutlich von ihrer Mutter erwischt werden. Es würde aber nichts ändern. Sie musste den Wolf sowieso pflegen. Daher fasste sie den Entschluss, Baldrian zu besorgen. Sie würde wohl zukünftig noch einige Zeit im Wald verbringen. Einmal um genügend Fleisch für ihre Eltern, den Wolf und sich selbst zu jagen und ebenso um die Baldrian Vorräte wieder aufzufrischen. Aber was sie nun angefangen hatte musste sie zu Ende bringen. Da es sehr gut funktioniert hatte, dass der Wolf nach ihrer Erklärung auf sie gewartet hatte, versuchte sie es erneut. Mit ruhiger Stimme sprach sie zu ihm und erklärte ihm ihren Plan. Das Gespräch beendete sie mit der bitte, dass er wieder auf sie wartete. Selma bemühte sich, möglichst den gleichen Tonfall, wie beim ersten Gespräch zu haben. Damit er daraus schließen konnte, dass sie wieder kam. Als sie gehen wollte, jammerte er Gott erbärmlich auf. So als wollte er sie bitten, dass sie nicht ging. Verzweifelt erklärte sie ihm, dass sie nicht bleiben und jemanden nach dem Baldrian schicken konnte. Sie müsste selbst gehen. Als sie wieder Anstalten machte zu gehen, hievte sich der Wolf hoch und versuchte ihr nach zu humpeln. Er wackelte nur vor sich hin, bis er schließlich umfiel. Was sollte sie tun? Wenn sie blieb musste er die Schmerzen weiter aushalten, wenn sie ging würde er ihr nachlaufen, was in seinem Zustand keine gute Idee war. Das Einzige was ihr einfiel wäre, dass sie ihn zu ihrer Hütte trug, aber sie hatte es bisher noch nicht gewagt, näher an ihn heran zu treten, geschweigen denn ihn zu berühren, wenn er wach war. Würde sie ihn tragen könnte er nach ihrer Kehle schnappen. Sie fühlte sich unwohl damit. Da kam ihr eine Idee. Sie könnte den Mantel nehmen und ihn als behelfsmäßigen Schlitten verwenden. Dies wäre eine gute Lösung sofern der Wolf auf dem Mantel Platz nahm und sich ziehen lassen würde. Vorsichtig näherte sie sich ihm. Schritt für Schritt und prüfte, ob es für ihn in Ordnung war, wenn sie den Abstand so weit verringerte, dass sie den Mantel zu fassen bekam. Er ließ es geschehen. Wartend lag er da und beobachtete was sie tat. Daraufhin breitete sie den Mantel so aus, dass er sich auf die Innenseite legen konnte und sie genügend Stoff hatte ihn damit zu ziehen. Wie konnte sie dem Tier nun verständlich machen, dass er sich auf den Mantel legen sollte und sie ihn dann mit sich zog. Dazu kam noch, dass sie ihn zur Hütte ziehen würde. Vorsichtig sprach sie auf ihn ein. Allerdings wirkte er nicht so, als hätte er verstanden. Deswegen begann sie ihm zu zeigen, was sie von ihm wollte. Vorsichtig ging sie auf den Mantel und hockte sich hin, dabei deutete sie auf ihn. Dann stand sie wieder auf, deutete auf sich und tat so, als würde sie den Mantel ziehen und deutete dabei in Richtung Waldrand. Noch immer sah der Wolf sie verwirrt an. Also entschied sie sich Dörrfleisch auf den Mantel zu legen. Das wiederum verstand er und folgte ihrem Angebot, auch wenn er nichts davon fraß. Nach dem er sich so gut wie möglich auf dem Mantel niedergelegt hatte hob sie vorsichtig das eine Ende, an dem sie ihn ziehen wollte, an. Als sie das tat erkannte sie in den Augen des Wolfes, dass er so langsam verstand was sie von ihm wollte. Kurz machte er Anstalten wieder aufzustehen, dann allerdings bemerkte er wie kraftlos er war und ließ es geschehen. Also zog sie den Wolf auf ihren Mantel in Richtung Hütte und überprüfte immer wieder, ob er sich noch wohl fühlte. Nervös blickte er zum Wald zurück, so als rang er mit sich, ob er nicht doch besser aufstehen und gehen sollte. Aber er blieb sitzen.
Selmas Mutter hatte das ganze Schauspiel beobachtet und war fasziniert wie gut ihre Tochter mit diesem wilden Wolf umgehen konnte. Wie gut sie mit ihm kommunizieren konnte. Ebenso war sie stolz zu sehen, dass die ganzen Stunden der Lehre gefruchtete hatten. Nun würde sie vor ihr ins Haus gehen müssen, damit Selma nichts merkte, aber sie konnte sich noch nicht losreisen von dem Anblick ihrer Tochter, die sich mutig entschlossen hatte alleine einen wilden Wolf zu pflegen. Sie half einem Wesen, welches die meisten einfach umgebracht hätten, da sie zu feige gewesen wären genauer hinzusehen. Einige Augenblicke verstrichen, in denen sie ihr noch zusah, wie sie den Wolf vorsichtig in Richtung Waldrand zog. Dann aber machte auch sie sich auf, um vor Selma in die Hütte zu gelangen. Coline beeilte sich, leise an ihr vorbei durch den Wald zu huschen.
Sie hoffte das der Ärger, den sie von ihren Eltern erhalten würde, nicht allzu groß war. Sie wusste das keiner von ihnen begeistert sein würde, dass sie ein wildes Raubtier pflegen wollte. Langsam und vorsichtig zog sie den Wolf zu ihrem Elternhaus.