Valeria Corvalis - Iris

Valeria Corvalis - Iris

  • Lunar - No Moon
  • Freischaffende Import/Exporthändlerin
  • Loyal - Prinzipientreu

Offene Dreadlocks, bunte Tücher im Wind und sonnengeküsste Haut – wer Valeria Corvalis und ihre Crew zum ersten Mal sieht, mag sie für Exoten halten. Doch im Westen ist das Leben so. Bunt und Stolz.

Valeria ist Kapitänin der Shifting Dawn, einer älteren, aber wendigen Dschunke mit Korallroten Segeln und dem Kiel ruhig in der Strömung liegend. Ihre Crew folgt ihr nicht aus Pflicht, sondern aus Überzeugung – und Valeria würde ohne Zögern für jede und jeden von ihnen das Ruder aus der Hand legen und das Schwert ziehen.

Wer mit ihr in See sticht, verlässt vertraute Gewässer – und betritt eine Welt, in der Loyalität und Freundschaft mehr zählt als Blut.

 

Nicht weiter Lesen - Privater Bereicht


 

Exalted Lunar - No Moon
Spirit Shape Quoll Lion
Herkunft Das Wavecrest Archipelago - Seehaven
Aufenthalt nach Exaltation Stadt der tausend Seegel - Schwimmende Stadt aus Schiffen
Shahan Ya

Tia Damaris

Sie ist eine treue Anhängerin von Leviathan. Sie teilt seine Ansicht, dass alle die dem Realm dienen ausgelöscht und die Dragonblooded vernichtet werden müssen um die richtige Ordnung wieder herzustellen. 

Mutter Maelani Corvalis
Vater Manako Corvalis
Bruder Nakoa Corvalis
Handelsfamilie

Eigenes Gut: Muschelseide - Ein wasserabweisender Stoff aus den Fasern eines besonders reisfesten Seetangs versetzt mit Perlmut. Der Seetang und das Perlmut reagieren mit einander. Dadurch erhält man einen wasserabweisenden und grün-perlmutfarb-schimmernden Stoff. Dies ist das Familiengeheimnis der Corvalis. 

Vater kauft ebenso interessante Wahre an und verkauft sie weiter. 

Familienschiff

Gischtläufer

Valerias Schiff

The Shifting Dawn

 

Die Salzwinde des Wavecrest Archipelago waren das erste, was Valeria Corvalis je gespürt hatte. Noch ehe sie das Licht der Welt sah, hatte ihre Mutter Maelani das Steuer des Familienschiffs fest in der Hand, das wie eine Möwe durch die Wellen glitt. Die Gischtläufer – so nannten sie das Schiff, das für die Corvalis nicht nur ein Transportmittel, sondern ein schwimmendes Zuhause war.

Maelani war das Herz des Schiffes, die Stimme, die den Kurs bestimmte, die den Seegang las wie andere Menschen ein Buch. Ihr Mann Manako war der Kopf hinter dem Handel – klug, charmant, mit einem Blick für Qualität und Bedarf. Er handelte mit fein gesponnenen Stoffen, gewoben aus Seegrasfasern, das mit Farben aus Muscheln und Korallen gefärbt wurde – ein Handwerk, das ihre Familie selbst entwickelt hatte. Diese Stoffe – „Muschelseide“ genannt – waren leicht, wasserabweisend und beliebt auf allen bewohnten Inseln. Der Handel florierte, und mit ihm wuchs auch Valeria heran.

Sie war keine zarte Blume – Valeria war Sturm und Brandung. Bereits mit zehn Jahren kannte sie jede Planke, jedes Seil, jede Strömung, die an den Rumpf der Gischtläufer schlug. Während ihr Bruder Nakoa mit glänzenden Augen lernte, Preise zu verhandeln und Stoffproben zu bewerten, schlich Valeria sich aufs Deck, übte Knoten, steuerte heimlich unter Aufsicht der Matrosen. Jeder auf dem Schiff wusste: Eines Tages würde sie das Ruder übernehmen.

Doch dann kam der Wandel. Etwa fünfzehn Jahre war es her, da begannen die Angriffe. Zuerst waren es nur Gerüchte – verschwundene Schiffe, geborstene Masten, treibende Leichen. Piraten gab es schon immer, ja, aber diese... diese waren anders. Sie forderten kein Schutzgeld. Sie plünderten nicht. Sie mordeten.

Zur gleichen Zeit bot Haus Peleps an ihre Flotte auf den Inseln zu verstärken, um gegen diese Angriffe zu schützten. Wie zufällig. Sie boten „Schutz“ an – gegen die Piraten, gegen das Chaos. Viele Inseln nahmen das Angebot dankbar an, doch Valerias Eltern waren misstrauisch. „Zu passend“, nannte Manako es. „Ein Theater“, murmelte Maelani nachts in ihrer Koje. Und Valeria hörte zu.

Die Gischtläufer blieb unbehelligt – bis zu jenem Tag.

Der Tag des Erwachens

Es war ein heißer Nachmittag, als sie die kleine Handelsinsel Numa-Tau ansteuerten. Die See war ruhig, die geplanten Geschäfte hatten sich sehr gut entwickelt. Valeria stand am Ruder, während ihre Mutter eine Karte prüfte. Dann kam der erste Pfeil. Dann der zweite. Schreie. Flammen. Chaos.

Sie waren schnell, brutal. Keine Forderung, keine Verhandlung. Nur Tod.

Als Marisol, die Frau welche für sie wie eine Schwester gewesen war starb, zersprang etwas in ihrer Brust und blanke Wut packte sie. Der Pirat, ein hochgewachsener und viel zu hellhäutiger Mann für diese Breitengrade, der noch die Pistole in der Hand hielt, aus welcher er den tödlichen Schuss abgegeben hatte, konnte nicht einmal mehr nachladen, da hatte Valeria ihn am Kragen gepackt und zu Boden gerissen. Mit schnellen und donnernden Fäusten schlug sie auf das Gesicht und seine Nieren ein. Er sollte für seine Tat bezahlen. Wutentbrannt schlug und zerrte sie an ihm. Plötzlich gab ein Knopf an seinem wettergegerbten Mantel nach und offenbarte den Verrat von Haus Peleps. Breit auf seiner Brust prangte das Siegel des Hauses als dunkelblaue Jadebrosche.

Elende Verräter, sie waren alle elende Verräter und Mörder!

Ihr ganzer Körper bebte. Nicht nur vor Angst oder Schmerz – sondern vor Zorn. Ein Zorn, der tief in ihrer Brust brannte wie eine großer Meeressturm der alles verschlingen würde, was sich ihm in den Weg stellte. 

Sie hörte noch aus der Ferne, dass ein Schuss dicht neben ihrem Kopf ins Deck der Gischtläufer einschlug, allerdings wirkte plötzlich alles sehr weit entfernt. Als plötzlich vor ihre eine wunderschöne Frau mit silbernem Haar aus dem Nichts vor ihr Stand. Ruhig beugte sie sich zu ihr und nahm ihr Gesicht in Beide Hände. Diese Hände fühlten sich an an wie die angenehme kühle einer Sommernacht. Valeria konnte nicht anders als ihr in die Augen zu blicken. Diese Augen so unendlich wie die See und ihre Seele so tief wie das Meer. Sie versank in ihnen.

„Du bist nicht allein, kleiner Mond.“

Die Frau sprach nicht direkt mit ihr, sie hörte ihre Stimme in ihr, sie hallte in jedem Zentimeter ihres Körpers wieder. Sanft wie das Streicheln einer Wasseroberfläche bei Mondaufgang, rau wie eine plötzliche Strömung, die einen unter die Wellen zog. 
Wissend, Wild.
Mütterlich.

Ihr Zorn begann unter diesen Blick zu verebben.

„Sie haben dir gezeigt, was sie wirklich sind. Jetzt zeige ich dir, wer du wirklich bist.“

Mit diesen Worten bahnte sich der Zorn in Valeria, mit voller Wucht, seinen Weg zurück an die Oberfläche, doch er bekam eine neue Richtung. 
Er war nicht mehr der tosende Sturm einer Sterblichen – sondern der Monsun der ganze Inseln mit seinen Springfluten, Stürmen und Wassermassen versenken konnte. 

Etwas riss sich durch sie hindurch, es waren Klauen die sich durch ihren Leib schlugen, ohne Schmerz eher wie etwas das tief in ihr schon immer geschlummert hatte und nun endlich sich zeigen wollte. Weil es der richtige Augenblick war. 

Bilder flackerten vor ihr auf: silberne Augen im Nebel, Spuren von Tatzen und Blut auf hellem Sand, eine Gestalt, die zwischen Mensch und Tier schwankte – und lachte.
Und dann war es, als würde die Welt sich neu sortieren.

Ihre Gestalt zerfiel, nur um sich neu zu formen. Krallen bohrten sich aus ihren Fingerspitzen, Fell wuchs über ihre Schultern, ihre Muskeln spannten sich, die Augen wurden zu schimmernden Spiegeln des Mondes. Kein Tier. Kein Mensch.

Ein Zorn mit Zähnen.

Luna flüsterte.

„Sie haben den Fehler gemacht, deine Familie zu verletzen. Zeig ihnen, was das bedeutet.“

Sie sprang.

Der erste Pirat merkte nicht einmal, wie sein Brustkorb aufgerissen wurde. Der zweite versuchte, sein Schwert zu ziehen – kam nicht weit. Valeria bewegte sich wie der Wind über das Deck, wild und präzise zugleich. Jeder Schlag war eine Antwort. Jeder Hieb ein Urteil. Kein Chaos – sondern Klarheit.

Sie roch das Blut ihrer Kameraden. Sah das Feuer, das auf ihren Namen geschrieben war. Und sie ließ es durch sich hindurch brennen.

Der letzte Mann – der Träger des Peleps-Siegels – taumelte zurück. Sie packte ihn, sah in seine Augen, riss ihm das Wappen vom Leib wie ein Schleier, der nie hätte da sein dürfen.

Dann wandte sie sich um.

Dort lag die Gischtläufer, unversehrt – und auf ihr standen ihre Eltern. Maelani, mit blutverschmiertem Gesicht, stumm vor Erschütterung. Manako, der seine Tochter nicht erkannte – nur das Monster, das sie geworden war.

Oder?
Nein. Das Wesen, das sie nun war.

Valeria atmete tief ein, ließ den Zorn in sich kühlen wie glühendes Eisen im Wasser. Dann warf sie das blutige Siegel mit aller Kraft auf das Deck der Gischtläufer.

Ein letztes Zeichen.
Ein Abschied.
Eine Wahrheit.

Und dann – sprang sie.

Noch während sie fiel, spürte sie, wie Luna wieder lächelte.

„Jetzt, mein kleiner Mond. Jetzt zeig ihnen, wie tief du sie ziehen kannst.“

Ihr Körper veränderte sich erneut. Tentakel sprossen, Haut wurde glatt und schimmernd, ihre Sinne dehnten sich aus, bis sie das Dröhnen der Schiffsbalken, das Flattern der Segel, das Keuchen der Überlebenden hörte, die Herzschläge der bald Sterbenden im Wasser pochen spürte.

Dann stieg sie auf – aus der Tiefe, als Gigantin des Meeres.

Das Piratenschiff hatte keine Chance. Die Tentakel schlossen sich darum, sanft wie eine Umarmung – tödlich wie ein Schwur. Holz zerbrach. Männer schrien. Das Schiff sank.

Und dann – war sie verschwunden.

Für Maelani und Manako war ihre Tochter fortan eine Gefallene.
Ein Opfer der Tiefe.
Ein Opfer des Zorns.

Aber das Meer?
Das Meer wusste es besser.

Und Luna?
Luna lachte – irgendwo da draußen, im silbernen Schein des kommenden Mondes.

 

Leben

Stille.
Nicht die Stille der Nacht.
Nicht die des Todes.
Sondern eine Stille, die atmete.
Wie der Moment zwischen Ebbe und Flut.

Valeria trieb in diesem Atemzug.
Wasser umhüllte sie wie ein Tuch aus kühlem Nass und Salz. Ihre Gedanken waren lose Fäden, kaum fassbar. Sie wusste nicht, wie lange sie in der Tiefe geschwebt hatte – als Kalmar, als Sturm, als neues Leben.

Aber irgendwo in ihr pochte ein Herz.

Ein anderes Herz.
Nicht das ihrer alten Welt.
Ein neues, silbriges, wildes Ding.

Und dann – kam Licht.
Nicht hell. Nicht grell. Sondern flackernd und tanzend.
Laternen.
Boote.
Rufe die grade so durch das Schwarz ihrer Sinne drangen.

Holz unter dem Rücken.
Ein Netz was sich um sie wickelte.
Der salzige Geruch von Räucherwerk und Tang.

Sie hustete, keuchte, krallte sich an den Boden und sog das Leben in sich ein.

„Sie lebt!“ eine kehlige Männerstimme dröhnte in ihrem schmerzenden Kopf.

"Hilf ihr auf, aber vorsichtig!"

Die Stimme war warm wie ein Sonnenuntergang über dunkelblauem Wasser.
Und zugleich schneidend wie das Lächeln eines Raubtieres.

Valeria hob den Blick – und sah sie zum ersten Mal:


Tia Damaris ...

stand mit nackten Füßen auf dem Deck. Ihre Haut war tiefgolden, mit weißen Linien tätowiert, die sich wie Strömungen über ihren Körper zogen. Ihr Haar war Mahagonibraun, lang und in rot leuchtenden Korallenreifen hochgesteckt. Ihre Kleidung bestand aus Muschelplatten, Seide und etwas, das wie hauchdünne Fischhaut schimmerte. In ihren Augen lag eine Mischung aus Spott, Güte und etwas unverrückbare Uraltem – wie die Gezeiten selbst.

„Du riechst nach altem Schmerz und frischem Tod,“ sagte sie, während sie sich vor Valeria hockte.
Vorsichtig strich sie ihre die Haare aus dem Gesicht und flüsterte ihr ins Ohr „Das ist ein Anfang und kein Ende.“

Valeria blinzelte. Ihre Stimme kam brüchig.
„Wo bin ich?“

Damaris hob eine Augenbraue.
„Na – auf meinem Schiff natürlich. Oder besser gesagt: in meinem Hafen.“

Sie breitete die Arme zu einer theatralischen Geste aus.
Und Valeria sah sie zum ersten Mal:
"Die Insel der Tausend Segel."

Ein Mosaik aus schwimmenden Flößen, zusammengenähten Schiffen, halbversunkenen Decks, hängenden Gärten, Zelten aus Takelage und Seide. Überall flatterten Banner – manche mit Symbolen, die Valeria nie gesehen hatte. Und überall: Bewegung. Leben. Rufe. Musik.

„Was ist das hier?“

Damaris grinste.
„Das, meine Kleine, ist der Ort, an dem man landet, wenn einen niemand mehr erwartet. Oder wenn man zu groß geworden ist für die Welt, aus der man kam.“

Valeria versuchte sich aufzurichten. Alles schmerzte.

„Warum hast du mich gerettet?“

Die Antwort kam leise.

„Ich nicht.“

Damaris deutete zum Himmel.
„Luna hat dich hier ausgespuckt. Und ich bin diejenige, die aufräumt, wenn der Mond jemanden mal wieder mit zu viel Gefühl segnet.“

Wissend lächelnd reichte sie ihr die Hand.

„Komm, meine Kleine. Du hast noch viel zu lernen. Und ich hab ein paar Dinge, die du kaputt machen darfst, bevor du anfängst die neue Welt mit Skepsis von dir wegzustoßen.“

Valeria zögerte. Doch dann – ergriff sie die Hand.

 

Die heilige Jadt

Das kleine Beiboot glitt über das ruhige Wasser, während die Insel der Tausend Segel hinter ihnen langsam im Dunst verblasste. Die Gischt spritze Valeria ins Gesicht und der Seewind wehte ihr eine Locke ins Blickfeld. Vor ihnen erstreckte sich das offene Meer – türkisblau, tief und scheinbar endlos. Unter der glatten Oberfläche erstreckte sich ein Riff, das selbst oberhalb des Wassers wirkte, als würde es vor Leben nur so strotzen.

Tia Damaris stand am Bug des Bootes, eine Hand locker am Seil, mit dem sie das kleine Segel justierte. Ihr Blick war nach vorn gerichtet, aber ihre Aufmerksamkeit gehörte Valeria, die auf der mittleren Bank saß, die Harpune fest umklammert.

„Gleich sind wir da“, sagte Tia, ohne sich umzudrehen. „Das Riff ist lebendig. Voller Wesen, die stark genug sind, um zu überleben – und würdig genug, um von dir getragen zu werden.“

Valeria sah zu ihr hoch, das Gesicht angespannt. Valeria war etwas Nervös, da sie befürchtete der Aufgabe nicht gerecht werden zu können. Tia hatte ihr so viel bereits über die heilige Jagt erzählt und in der Theorie beigebracht, aber alles in der Praxis auszuführen, war etwas ganz anderes. Ebenso schauderte es ihr noch vor dem Moment das Herzblut eines Wesens zu trinken. Immer wieder hallten Tias Worte in ihr wieder: "Nachdem du verstehst, dass du eine Bewahrerin des Lebens bist, wirst du diese Tat nicht mehr abscheulich finden sondern ehren!" 

Tia drehte sich nun um, lehnte sich leicht gegen das Holz des Steuers der Heckflosse und verschränkte die Arme. „Heute beginnst du deine erste Heilige Jagd. Du wählst ein Wesen aus, schwimmst ihm nach, lernst seine Lebensweise zu verstehen und tötest es. Danach ehrst du es und wirst der Bewahrer seines Lebens. Wenn alles gut geht, kannst du dich am Ende in dieses Leben verwandeln.“

Mit Stolz in den Augen blickte Tia auf Val und holte mit einer fließenden Bewegung einen sorgfältig eingewickelten Gegenstand aus ihrem, aus Flachs bestehenden, Seesack. Andächtig, fast schon ehrfürchtig enthüllte sie einen filigran gearbeiteten Dolch. Mit ihrer Rechten griff sie danach und Wog in in ihrer Hand und hielt ihn gegen das Licht der gleisenden Sonne. Dieser Dolch wirkte wie die Verlängerung ihres Arms. Perfekt auf sie abgestimmt. Vom Knauf bis zur Spitze der Klinge maß er so viel wie Tias Unterarm.

Prächtige Schnitzereien durchzogen die weiße Klinge, welche mit silberfarbenen Linien durchzogen war. Kurz darauf reichte ihn Tia Valeria. "Nur geliehen. Du wirst dir heute ebenso das Leben für deinen Ritualdolch aussuchen. Dieser Dolch wird das letzte sein, was das Wesen, wessen Leben du in dir aufnimmst, fühlen wird und ein Stück des Wesen wird Bestandteil deines eigenen Dolch sein. Also überlege dir genau, wie du das Leben, das in deinem Dolch wohnen wird, im Augenblick seines Todes behandelst!" Valeria streckte die Hand erfürchtig danach aus. Kurz zuckte Tia zurück: "Verliere ihn ja nicht! Der Delfin ist mein erstes Leben, was ich in mir aufgenommen habe." Respektvoll nickend ergriff Valeria die heilige Leihgabe. Würde sie diesen Dolch verlieren, würde sie ein Stück ihrer Lehrmeisterin verlieren und damit auch alles Ansehen von ihr selbst bei ihrer Meisterin verlieren.

Tia erwiderte das Nicken und wendete sich wieder der Ferne zu. Nervös verlagerte Valeria das ihr Körpergewicht von einer zur anderen Seite. Quälende Unsicherheit durchzog ihren Geist, bis sie es nicht mehr aushielt: „Und wenn ich scheitere?“ Tia hob eine Braue, fast amüsiert. „Dann schwimmst du wieder hoch. Lernst, was du falsch gemacht hast. Und versuchst es noch mal. Aber ich glaube nicht, dass das nötig sein wird.“ Damit war alles gesagt, etwas beruhigte es Valeria, dass sie mehr als nur einen Versuch hatte, dennoch wollte sie ihre Shahan-Ya nicht enttäsuchen. 

Tia stellte das Segel aus dem Wind, so dass das kleine Beiboot sich verlangsamte. Geschickt manövrierte die Königi der Insel der tausend Seegel das Boot so, dass es fast zum Stillstand kam und ein wenig im Wasser trieb. Es war so weit. Zu guter letzt warf Tia Valeria einen kleinen Aparat hin, mit dem sie unterwasser Atmen konnte. Es war ein einfaches Artefakt aus dem ersten Zeitalter. Die Seefahrer der Insel hatten es auf einigen kleineren, inwzischen verlassenen Inseln entdeckt und alle intakten Fundstücke geborgen. Einige Lunare beschäftigen sich auch damit diese Artefakte wieder zu reproduzieren. 

Sie nahm das nahm das Artefakt in den Mund. Ein anderer Teil umschloss ihre Nase und bildete eine Luftkammer darum. Dann trat Sie zum Rand des Boots, ließ den Blick über das glitzernde Wasser schweifen und sprang. Das eindringen in das kühle Nass war bei den Außentemperaturen ein kurzer Kälteschock, nach wenigen Augenblicken aber äußerst Willkommen. Tausende Luftblasen um sie herum suchten den Weg an die Oberfläche. Nach dem sie sich unterwasser orientiert hatte, prüfte sie noch einmal den Sitzt ihrer Harpune und des Artefakts. Nach dem sie zufrieden feststellte, dass alles passend an ihrem Körper anlag und die Harpune griffbereit war schwamm sie zum Riff um sich ein würdiges Wesen auszuwählen.

Das Wasser um Valeria war warm und klar, als sie zwischen den Korallenhügeln dahinschwebte. Unter ihr reckten sich fingerlange Röhrenwürmer, leuchtend bunt wie zerplatzte Regenbögen, aus Rissen im Gestein. Zwischen ihnen flitzten Fischschwärme wie lebendige Ströme, die in glitzernden Spiralen auseinanderstoben, sobald sie näherkam. Alles schien in Bewegung – ein Tanz, alt wie die Gezeiten selbst. Unter ihr breiteten sich dichte Teppiche aus violettem Tang aus, die sich in der Strömung wie feuchte Schleier bewegten.

Sie hielt für einen Moment inne. Ihr Blick glitt über ein Tal aus Weichkorallen, deren Spitzen wie kleine Flammen wogten. Ein Gefühl von Ehrfurcht stieg in ihr auf. Das Riff war keine bloße Ansammlung von Stein und Tier – es war ein Organismus, atmend, lebendig, älter als jedes Schiff, das je gebaut worden war.

Und genau hier sollte sie ihre erste Beute wählen. Hoffentlich würde sie es schaffen. Sie wollte Tia nicht enttäuschen und vor allem wollte sie es sich selbst beweisen, dass sie würdig war eine Lunar zu sein. Eine Bewahrerin des Lebens.  So schwamm sie und beobachtete das Treiben im kühlen Nass, als plötzlich in ihrem Augenwinkel ein Schatten vorbei glitt. Ein massiger Stachelrochen, der gemächlich über den Sandboden glitt. Seine Haut war von dunklen Mustern durchzogen, sein langer Giftstachel zuckte bei jeder Bewegung. Valeria beobachtete ihn, hielt sogar kurz inne, um sich in seiner Nähe treiben zu lassen. Doch etwas fühlte sich… falsch an. Als wäre das Wasser zähflüssiger zwischen ihnen. 

Sie wandte sich ab, mit einem leisen Grummeln hinter dem Atemstück.

Ein paar Riffe weiter, im Zwielicht einer Felswand, entdeckte sie ein leuchtendes Etwas: ein Tiefsee-Laternenaal, dessen Schuppen in wechselnden Farben pulsierten. Wie ein schlafender Blitz. Er wand sich durch die Schatten, lauerte. Jäger. Geschmeidig. Aber Valeria konnte sich nicht vorstellen, ihn zu sein. Zu kalt. Zu trennend von dem, was sie war.

Der dritte war ein Großkraken, halb verborgen in einem Tangwald. Als sie ihm näherkam, veränderte er seine Farbe, passte sich an wie ein Lügner, der die Form seiner Umgebung stiehlt. Seine Augen folgten ihr – klug, wachsam. Und doch… sie konnte sich nicht überwinden. Er war zu viel Taktik, zu wenig Herz.

Sie stieß sich von der Felswand ab, die Muskeln angespannt, und stieß ein paar Luftblasen durch das Atemstück aus. Frust brodelte in ihr auf.

"Verdammt. Warum fühlt sich keines richtig an?" Sie schlug mit den Beinen kräftiger als nötig. Für einen Moment war da nur ihr eigener Schatten unter ihr, der sich verzerrt im Sand abzeichnete. „Du wirst es wissen, wenn das Richtige vor dir steht.“ Tias Stimme. Nervig ruhig. Nichts daran half.

„Und wenn es nicht kommt?“, dachte Val finster. „Was, wenn ich nichts fühle? Was, wenn ich nichts bin, als eine zu groß gewordene Welle, die sich für Tiefe hält?“ Sie ließ sich treiben. Ließ alles los. Die Wut. Die Unsicherheit. Die Kontrolle. Der Ozean trug sie fort – und sie hörte einfach nur zu. Der leise Gesang von Walen in der Ferne, das Knistern der Korallen, das Rufen von unbekannten Wesen.

Ein Kammrücken-Schuppengleiter glitt unter ihr hindurch. Seine Bewegung war ein einziger Fluss aus Muskeln und gezackten Schuppen. Valeria fühlte nichts. Auch der nächste, ein aggressiver Muränenbarsch, der mit aufgerissenem Maul aus einer Spalte schoss, ließ sie kalt. Selbst als er drohte, sie anzugreifen, blieb da nur das dumpfe Gefühl: Du bist es nicht.

Valeria schloss die Augen. "Vielleicht bin ich es, die falsch ist." Sie drehte sich langsam im Wasser. Ließ den Blick schweifen, wollte sich gerade zur Umkehr wenden – da spürte sie etwas. Zuerst war es nur ein Druck. Ein Kitzeln unter der Haut. Eine Präsenz, die nicht greifbar war. Und dann sah sie ihn. Er schwamm nicht einfach nur im großen blauen Ozean. Er schwebte einfach, erhaben und so majestätisch aus dem Blau der Tiefe.

Ein Weißspitzen-Hochseehai.

Er schwamm in einem weitem Bogen, langsam, als würde er das Wasser selbst schneiden. Seine Flossen waren breit, der Körper muskulös, mit Narben, die Geschichten erzählten. Seine Augen – schwarz, tief, voller uralter Ruhe – trafen ihre. Für einen Moment war da nichts anderes. Keine Strömung. Kein Geräusch. Und nur ein Gedanke: "Wie wunderschön!"

Valeria hielt den Atem an, obwohl sie nicht musste. Sie konnte sich nicht bewegen. Nicht aus Angst. Sondern aus... Anerkennung. Er war ein Jäger. Kein Monster. Kein Opfer. Mit zitternden Fingern fuhr sie sich über den Brustkorb, als müsse sie prüfen, ob ihr Herz noch schlug. Er ist es, dachte sie und diesmal war da kein Zweifel.

Allerdings je mehr sie ihn beobachtete desto weniger wollte sie ihn töten. 

Valeria beobachtete den Hai aus sicherer Entfernung, verborgen hinter einem dichten Tangvorhang, der sich träge in der Strömung wiegte. Die Sonne stand längst nicht mehr so hoch wie zuvor. Licht brach sich in langen, goldenen Schleiern durchs Wasser und tanzte über den Rücken des Weißspitzen-Hochseehais, als wäre er selbst ein König in schimmernder Rüstung.

Er zog majestätisch seine Bahnen, umrundete in gleichmäßigen Bögen eine versteckte Kaverne zwischen zwei Felsvorsprüngen, die offenbar sein Revier war. Kein anderes Wesen näherte sich diesem Ort – selbst größere Raubfische zogen einen Bogen. Valeria erkannte den Respekt, den dieser Jäger sich in seinem Reich erarbeitet hatte.

Sie beobachtete, wie er jagte – zielgerichtet, präzise. Keine unnötige Bewegung. Ein einziger Stoß mit dem kräftigen Schwanz, ein Aufblitzen der Zähne, und seine Beute war genommen. Doch nie aus Grausamkeit. Kein Spiel, kein Stolz. Nur Notwendigkeit.

Sie verbrachte Stunden damit, ihn zu studieren. Wie er ruhte, sich langsam durch Schluchten bewegte, die Augen halb geschlossen. Ein Wesen von solch ruhiger Macht, dass allein seine Gegenwart den Puls verlangsamte. Und Valeria, in ihrem Versteck, wurde still.

Mit jeder Stunde wurde der Gedanke schwerer: "Sollte ich ihm wirklich das Leben nehmen?"

Sie schwamm auf und ab, suchte nach Zweifeln, nach einem Zeichen. Und jedes Mal, wenn sie ihn sah, war da nicht Jagdtrieb – sondern Ehrfurcht. Und ein wachsendes Wissen:

"Wenn ich ihn nicht mit Ehre töte, darf ich ihn nicht töten."

Am Rand der Dämmerung, während die Wasserfarben langsam dunkler wurden, fiel ihre Hand auf den Griff der Harpune. Und sie wusste: Das ist nicht die Waffe für ihn.

Sie zog sie aus der Schlaufe, band sie an einem Korallenhaken fest. Dann griff sie nach dem Dolch. Dem Werkzeug, das nicht aus Distanz tötet, sondern aus Nähe. Das spürt, was stirbt. Und ihr war klar, was sie tun musste.

„Ich werde mich beweisen“, flüsterte sie gegen das Mundstück, als könnte es das Meer hören. „Nur wenn ich ihn im offenen Kampf besiege, trage ich ihn mit Recht.“

Der Hai spürte sie, noch bevor sie ihn direkt ansteuerte. Er drehte sich zur Seite, langsamer als nötig, aber aufmerksam. Als sie näherkam, spannte sich sein Körper. Keine Flucht – eine Prüfung.

Valeria stieß sich kraftvoll aus dem Tang hervor, der Dolch fest in der Hand. Ihre Muskeln zitterten, doch ihr Blick war ruhig.

Dann war da nur Bewegung.

Der Hai schoss auf sie zu – ein Schatten im Wasser, ein lebendiger Sturm. Valeria wich aus, drehte sich, schnitt durch die Strömung. Doch sie war zu langsam. Seine Masse traf sie mit der Flanke, schleuderte sie gegen eine Felskante. Luft blubberte aus dem Artefakt, ihre Schulter pochte sofort vor Schmerz. Für einen Moment war alles verschwommen.

Sie riss sich los, tauchte tiefer, versuchte, Abstand zu gewinnen – doch er folgte ihr. Er war kein unkontrollierter Räuber. Er war wachsam, vorsichtig. Er prüfte sie. Und nun war es an ihr, zu bestehen.

Sie machte einen weiten Bogen, versuchte sich neu zu orientieren. Der Dolch fest in der Hand, der Griff warm vom Druck ihrer Finger. Der Hai zog wieder an, schnell, zielstrebig – diesmal mit offenem Maul. Reihen gezackter Zähne blitzten auf. Valeria drehte sich seitlich, stieß sich mit einem Flossenschlag zur Seite, doch sein Kiefer streifte ihren Oberschenkel. Schmerz loderte auf, Blut stieg auf wie ein roter Schleier zwischen ihnen.

Sie trieb zurück, Herz rasend, die Sicht kurz verschwommen.

Ein dicker, schlingender Tangstrang wickelte sich um ihren Fuß, hielt sie zurück, als sie sich abstoßen wollte. Ihr Atem wurde hektischer, Panik blitzte auf. Der Hai wandte sich, kam wieder – diesmal nicht frontal, sondern in einem Bogen, um sie zu flankieren.

Sie griff nach dem Tang, riss daran, schnitt mit dem Dolch, das Wasser brodelte. Noch immer kein Erfolg. Die Bewegung des Hais kam näher – ein dumpfes Grollen, das sie mehr spürte als hörte.

Jetzt!

Mit einem letzten, wilden Schnitt durchtrennte sie den Tang, schoss mit einem kräftigen Stoß zur Seite – und der Hai sauste an ihr vorbei, so knapp, dass seine Rückenflosse ihre Haut streifte.

Sie drehte sich in der Bewegung, kam unter ihn. In einem Impuls, halb Intuition, halb Verzweiflung, stieß sie sich vom Boden ab und rammte ihm die Klinge in die empfindliche Unterseite, knapp hinter die Kiemen.

Ein dumpfer Ruck durchlief das Tier. Für einen Moment schien es still zu stehen – wie eingefroren in der Strömung. Dann bäumte es sich auf, seine Bewegung wurde unkoordiniert, langsam. Blut schwebte im Wasser wie aufgelöste Tinte.

Valeria klammerte sich an seinen Körper, presste ihre Stirn gegen die raue Haut.

„Danke, ich werde dich bewahren“, flüsterte sie ehrfürchtig. Ihre Muskeln brannten. Ihre Wunde pulsierte. Doch in ihrer Brust war eine seltsame Ruhe. 

Sie sah sich um – orientierte sich an der Umgebung, bis sie ein flaches, von Felswänden geschütztes Plateau im Riff entdeckte. Es war überzogen von Seetang, muschelverkrustet, aber eben genug, um zu dienen.

Mit aller Kraft – und sie brauchte wirklich jede Faser davon – zog sie den Körper des Hais dorthin. Zentimeter für Zentimeter, wobei das Wasser den Koloss zwar trug, ihn aber dennoch sperrig und schwer machte. Immer wieder rutschte sie ab, musste erneut ansetzen, den Kiefer zusammenbeißen, das Blut aus ihrer Wunde hinter sich herziehend.

Endlich, auf dem Plateau angekommen, legte sie das Tier vorsichtig ab. Dann holte sie tief Luft – so tief es eben unter Wasser ging – und begann mit ruhigen, kontrollierten Bewegungen zu arbeiten.

Sie schnitt das Fleisch auf, legte das pochende Herz frei, das noch ein letztes Echo von Leben in sich trug. Als sie es vorsichtig aus der Brust des Tieres löste, bebte ihre Hand. Der Moment war nicht triumphal – er war still. Fast traurig.

Dann löste sie einen kräftigen Knochen aus dem Brustkorb. Er war gebogen, aber glatt – perfekt als Grundlage für ihren eigenen Dolch. Als sie beide Teile – Herz und Knochen – sicher in den kleinen Beutel verstaute, neigte sie den Kopf tief. 

„Möge dein Körper den Jägern des Riffs dienen“, murmelte sie, während sie den Körper in die Strömung schob. Kleine Raubfische hatten sich bereits genähert – respektvoll, wie es schien. Ein Geschenk an das Leben.

Mit letzter Kraft schwamm sie zurück zur Oberfläche, wo das Beiboot dümpelte. Tia wartete dort, wie versprochen, aufrecht sitzend mit verschränkten Armen und beobachtete den Horizont – als hätte sie genau gewusst, wann Valeria auftauchen würde. Val zog sich keuchend an Bord, das Wasser tropfte von ihrer Kleidung. Sie ließ sich auf die Planken sinken, den Beutel an ihre Brust gedrückt. Tia reichte ihr wortlos ein Tuch und deutete mit dem Kinn auf den Dolch. „Hast du’s bei dir?“ Valeria nickte, langsam, erschöpft – und dann holte sie das Herz aus ihrem Seesack und zeigte sie Tia.

Valeria setzte sich auf, atmete einmal tief durch und hielt das kostbare Herz vorsichtig in ihrer Hand. Es war schwer, warm, und noch immer glänzte das Blut an der glatten Oberfläche wie flüssiger Rubin.

Tia reichte ihr stumm eine kleine Schale – schlicht, aus dunklem Holz, eingefasst mit einer Spiralgravur aus silbernem Metall. Kein Wort, kein Fingerzeig. Die Geste sagte alles: Dein Weg. Deine Verantwortung.

Die Knie auf das feuchte Holz gedrückt, stellte Valeria die Schale zwischen sich und den Dolch, der vor ihr lag. Dann hob sie das Herz mit beiden Händen und senkte es langsam über das Gefäß. Das erste Blut tropfte schwer in die Schale, vermischte sich mit der salzigen Nässe auf dem Holz und färbte das Silber dunkelrot.

Sie hielt inne, ließ das Blut fließen – nicht schnell, nicht gierig. Mit jeder Bewegung flüsterte sie: „Ich danke dir. Für deine Kraft. Für dein Leben. Für das, was ich durch dich werden darf.“ Als das letzte Blut in die Schale getropft war, legte sie das Herz zur Seite und nahm die Schale mit beiden Händen auf. Ihre Lippen berührten den Rand, sie hielt inne. Ein letzter Moment der Stille. Dann trank sie.

Das Blut war warm. Wild. Bitter und fremd und seltsam vertraut zugleich. Es war, als würde sich ein uralter Strom durch ihren Körper winden, als würde sie für einen Herzschlag Teil des Ozeans selbst. Ein Prickeln durchlief sie, das Mark vibrierte in ihren Knochen, und ihre Haut schien für einen Moment nicht mehr ihr zu gehören – als würde etwas Altes sie von innen her neu schreiben.

Sie zitterte. Nicht vor Kälte. Nicht vor Angst. Sondern vor Ehrfurcht. Als Valeria die Schale senkte, war ihr Atem flach, ihre Gedanken weit. Die Welt um sie herum schien für einen Moment stillzustehen – das Meer, der Wind, sogar das leise Knarren des Holzes unter ihren Knien.

Tia nahm ihr die leere Schale ab, ohne ein Wort zu sagen, und stellte sie beiseite. Dann sah sie Valeria lange an. „Der Hai lebt jetzt in dir,“ sagte sie leise, fast rau. „Aber du musst ihm Raum geben.“ Sie deutete mit dem Kinn zum Wasser. „Spring.“ Valeria blinzelte. „Jetzt?“ „Ja.“ Ein kurzes Nicken. „Du hast ihm sein Leben genommen, um ihn in dir aufzunehmen, jetzt zeig ihm, dass er in dir weiter lebt. Werde, was du genommen hast.“

Valeria zögerte keinen Moment länger. Mit einem letzten tiefen Atemzug stand sie auf, trat an die Reling und ließ sich ins Wasser fallen. Es war kühl, klar – vertraut. Kurz schmerzte das salzige Wasser in der Wunde am Oberschenkel, welche er ihr geschlagen hatte jedoch noch während sie sank, veränderte sich etwas in ihr. Es war wie das Loslassen von Haut, die zu eng geworden war.

Fleisch dehnte sich, Knochen streckten sich. Ihre Sinne weiteten sich, als wären sie nie begrenzt gewesen. Sie war schneller. Tiefer. Einfach… richtig. Sie war der Hai.

Die Strömung begrüßte sie wie einen alten Freund. Ihr Körper bewegte sich, als hätte er nie etwas anderes getan. Kein Nachdenken. Kein Zögern. Nur das Meer, und sie darin – als Teil davon. Ein paar Minuten ließ Tia sie ziehen. Dann klopfte sie ans Holz des Boots, ein festes, rhythmisches Signal.

Val tauchte auf. Ihre Gestalt kehrte langsam zurück, das Wasser lief in Rinnsalen über ihre Arme und ihr schmerzendes Bein. Sie stützte sich auf die Bootswand, die Haare nass im Gesicht, die Augen leuchtend. 

Tia nickte knapp. „Jetzt bist du bereit. Um den Prozess des Werdens abzuschließen musst du auch die fleischliche Hülle des Herzens essen. Du darfst es zubereiten, wenn du möchtest, aber nur mit den Elementen selbst.“ Mit diesem Satz wich der Ernst aus ihrem Gesicht und machte einer gewissen schelmischen Neugier platz, dann hob sie hob eine Braue. „…zeig mir den Knochen.“ Zum Funkeln in Valerias Augen gesellte sich ein breites Grinsen. "Gedulde dich doch etwas, wir müssen erst mein Bein versorgen, dann zeige ich dir was er mir geschenkt hat."

Tia ließ sich ein leises Schnauben entlocken, als sie sich neben Valeria kniete und einen kritischen Blick auf das verletzte Bein warf. „Nicht schön, aber du wirst es überleben.“ Mit geübten Händen spülte sie die Wunde mit einer bitter riechenden Tinktur aus einer kleinen Phiole, die sie aus ihrem Gürtel zog, aus. Val knirschte mit den Zähnen, ließ es dennoch über sich ergehen. Danach wickelte Tia ein sauber gefaltetes Stoffband fest um den Oberschenkel und befestigte es mit einem weiteren dünnen Streifen Stoff, welchen sie aus dem Tuch zuvor abgerissen hatte.

"Damit solltest du gehen können. Auf der Insel lässt du es dir am besten von Dimas ansehen. Der versteht davon noch etwas mehr als ich, aber bis dahin ruderst du mit mir, nicht dass du dich zu sehr daran gewöhnst dich einfach zurück zu legen." 

Val verzog theatralisch, leidend das Gesicht zu einer schelmischen Grimasse. „Rudern, ja? Und was, wenn ich wegen der Anstrengung ohnmächtig werde? Willst du dann erklären, warum deine tapfere Schülerin, wegen deiner mangelnden Führsorge und tyrannischen Art bewusstlos im Boot liegt?“

Tia verzog eine Augenbraue und schmunzelte herausfordernd. „Ich würde sagen: Prüfungen schleifen den Diamanten.“ Beide Frauen lachten herzlich. Valeria wusste selbst, dass die Verletzung sie nicht vom Rudern abhalten würde, also schnappte sie sich, nachdem sie eine Freudenträne aus ihrem Augenwinkel gewischt hatte, die auch all die Anspannung der letzten Stunden auflöste, ein Ruder und begann so gut es ging mit Tia zurück zur Insel zu paddeln. 

Die Rückfahrt zur Insel der Tausend Segel verlief in ruhigem Schweigen. Der Himmel färbte sich orange, dann violett. Möwen kreisten über dem fernen Hafen. Val saß im Boot, das Herz in einem einfachen Leinentuch vor sich, den Knochen neben ihr im Seesack. Ihre Gedanken waren tief in der Tiefe geblieben – bei dem Hai, bei seinem letzten Blick.

Als sie den Ankerplatz erreichten, half Tia ihr an Land. Val humpelte leicht, doch sie lehnte jede weitere Hilfe ab. Mit jedem Schritt fühlte sie sich mehr wie jemand, der etwas Bedeutendes durchlebt hatte. Kein Triumph – eher ein stilles Ankommen.

Tia führte sie zu einer kleinen Plattform zwischen zwei ehemaligen Schiffsrümpfen, welche die äußere Hülle der Insel stabilisierten. Vermutlich war es eine Konstruktionsplattform gewesen, auf welcher die Handwerker standen, als sie die Äußere hülle gebaut hatten. Tia bedeutete Valeria dort kurz zu warten. Einige Augenblicke später kam sie mit einer feuerfesten Schale aus Metall zurück sowie Treibholz und Zunder. Sie legte die alle Utensilien vor Valeria auf den Boden und bedeutete ihr die Prozedur zu beenden. Also stapelte Valeria das Holz in der Schale. Diese Behältnisse wurden von den Bewohner der Insel genutzt um offenes Feuer auf der konstruierten Insel zu entfachen ohne sie in Brand zu setzten. Es verging eine gute Stunde bis das hitzige Feuer zu Glut wurde, als die ideale Temperatur von den glühenden Holzscheiten ausging, spießte sie das Herz auf einen geschliffenen Metallstab und hielt es über die Flammen. Fett zischte leise, Blut gerann und tropfte ins Feuer, das mit jedem Tropfen aufloderte. Der Geruch war ungewohnt, erdig, eisenhaltig, fast süßlich.

Als es gar war kühlte sie es mit ihrem Atem und sah Tia fragend an.

Diese nickte nur. „Letzter Schritt.“

Val nahm das Herz und biss entschlossen, ohne zu zögern hinein. Das Fleisch war zäh, doch mit jedem Kauen breitete sich ein Gefühl in ihr aus, das sie kaum benennen konnte. Es war eine Mischung aus Stärke, Klarheit und ein tiefes, uraltes Pulsieren, das sich mit ihrem eigenen Herzschlag zu verweben schien.

Als sie die letzten Bissen schluckte, schloss sie die Augen. Der Wind fuhr ihr durchs Haar. Die Gischt benetzte ihre Haut. Und irgendwo in den Tiefen des Ozeans schien etwas zu antworten. Sie öffnete die Augen, sah zu Tia deren Blick stolz erfüllt den ihren Traf.

 

Leviathan

Tia Damaris saß auf der Reling ihrer Junke, ein Bein baumelte über der Kante, das andere angezogen. Ihre Augen ruhten auf dem Horizont, wo das Licht der untergehenden Sonne das Meer in flüssiges Kupfer tauchte.

Als Valeria sich näherte sprach Tia einfach in den Sonnenuntergang hinein, als hätte sie Valeria bereits erwartet.

„Du schwimmst nun nicht mehr Ziellos umher“, sagte sie leise. „Du weißt jetzt, wann du tauchst. Wann du beißt. Und wann du still bleibst.“

Valeria antwortete nicht. Sie setzte sich stattdessen neben sie.

Tia sah sie von der Seite an, ein Ausdruck zwischen Stolz und einer Spur Unruhe.

„Ich denke, es ist Zeit. Du sollst Leviathan begegnen.“

Ein Windstoß zerrte an Tias Korallenreifen. "Folge mir!" Mit diesen Worten stieß sie sich von der Reling ab und tauchte in die Fluten unter ihr ein.

Valeria folgte ihr ohne zu zögern. 

Kaum hatte sie das Wasser durchbrochen, übernahm die Verwandlung – Fleisch wurde Flosse, Knochen verformten sich, Haut straffte sich zu silbriger Robustheit. In wenigen Atemzügen war sie kein Mensch mehr, sondern ein schlanker, kraftvoller Weißflossenhai.

Tia wartete bereits auf sie, in der Gestalt eines Delfins. Ein kurzes, zustimmendes Schnappen – dann wandten sie sich gemeinsam der Tiefe zu.

Sie schwammen. Lange.

Das Licht über ihnen wurde blasser, verlor seine Wärme, dann seine Farbe, dann verschwand es ganz. Die Welt wurde kälter und dichter. Finsternis kroch über sie wie ein schleierhafter Mantel.

Valeria zählte nicht, wie oft sie schlug. Wie oft ihre Kiemen Wasser einsogen um den Sauerstoff daraus zu filtern.
Die Zeit verlor ihre Form.

Kein Wort fiel. Nur das leise Rauschen der Strömung, das Blubbern von gelegentlichen Luftblasen, das rhythmische Gleiten ihrer Körper durch das bodenlose Blau.

Dann – irgendwann – als die Welt nur noch aus dunkler Bewegung bestand, veränderte sich etwas.

Valeria spürte es, bevor sie es sah. Die Strömung veränderte sich zuerst, durch das Wasser drangen untypische Bewegungen zu ihr. Ebenso wurde es wärmer und dann ein Flimmern. Kaum mehr als ein Widerschein in der Tiefe.

Sie verlangsamte. Unter ihr wurde es heller. Erst das leichte flimmern, dann wirkte es als würde man der Oberfläche entgegen schwimmen, nur dass sie dem Meeresgrund immer näher kamen.

Valeria blinzelte innerlich – und in ihrer Brust regte sich etwas:
Neugier. Staunen. Ein leiser Schauer über die Rückenflosse.

Neben ihr drehte sich Tia langsam in einer Spirale, als würde sie sagen: Da unten beginnt etwas.

Nur das Licht wuchs – und mit ihm die Ahnung, dass Valeria bald etwas sehen würde, das etwas wirklich besonderes war.

 

Sunken Luthe

Das Leuchten unter ihnen wuchs und wurde heller. Verschiedene Nuancen an Farben gesellten sich dazu. 
Wir war das möglich?

Je weiter sie in die Tiefe schwammen erkannte Valeria, dass das die Lichtquelle phosphoreszierender Tang war. So verstrichen wieder einige Augenblicke in welchen Valeria mit ihren Flossen, das Wasserdurchschnitt. Bis sich zum Licht tanzende Schatten und eigenwillig klingende Geräusche gesellten. 

Valeria folgte Tia durch die heller werdende Tiefe. Bis sie das Gefühl hatte eine unsichtbare Grenze zu durchstoßen. In diesem Moment erkannte sie was vor ihr lag, eine riesige Stadt, welche vollkommen von Korallen und Tang eingewachsen war. Zumindest schien es so auf den ersten Blick.

Valeria hielt instinktiv inne. Der Anblick raubte ihr für einen Moment jeden anderen Gedanken. Tia führte sie weiter in dieses faszinierende Gebilde. Desto näher sie kamen, desto mehr erkannte sie, dass die Grundmauern Ruinen waren. Diese Stadt schien vor langer Zeit zerstört worden zu sein und an diesen Ruinen wurden neue Gebilde aus Tang und Korallen geformt. Alles wirkte wie im Traum. 

Sie schwammen durch einen Gang aus zwei alten Häuserfronten. Diese waren von diversen Rissen durchzogen welche sich wie ein Spinnennetz darüber ausbreiteten. Hierbei viel Valeria die Struktur der ursprünglichen Gebilde auf. Es waren riesige Bauwerke aus Jade und Glas gewesen. Valeria war etwas irritiert, baute man auch unterwasser mit Jade. Je mehr sie von den alten Teilen der Stadt sah desto irritierter war sie. Es wirkte alles eher so, als ob diese Stadt für das trockene Land gebaut worden war. Ihr verdacht bestätigte sich, als sie in den Ruinen Treppen erkannte. War diese Stadt etwa versunken? Was war dies alles hier?

`Sie würde in diesem Moment keine Antwort von ihrer Shahan Ya erhalten. Daher folgte sie ihr grübelnd und staunend weiter. Die neuen Bewohner, welche bereits hier zu sehen waren, hatten Neu und Alt perfekt kombiniert. Korallenkokons ruhten zwischen geborstenen Kuppeln und gewaltigen Säulen, die in die Finsternis darüber ragten wie die Knochen eines uralten Seeungeheuers. Einige Gebäude wirkten, als wären sie gestern erst versunken, fast unversehrt. Andere waren aufgerissen, von Riffen überwuchert, mit leuchtendem Tang neu verwoben – ein Mosaik aus Verfall und Wiedergeburt.

Durch das zerfallene und neuaufgebaute Mauerwerk zogen Wesen in allen Farben und Formen: Mantavolk, Tintenfischmenschen, Fischmenschen mit leuchtenden Hautzeichnungen. Einige trugen kunstvolle Gewänder aus Tang und Muscheln, andere nur ihre Muster aus Schuppen und Licht. Zwischen ihnen flitzten kleine Goby-Wesen, kaum größer als Kinder, mit Werkzeugen und leuchtenden Kristallen, wie Handwerker in ein lebendes Bauwerk.

Die Häuser waren keine festen Strukturen – sie wuchsen. Aus dem zerschlagenen Stein wanden sich Wohnkapseln aus Korallen und Seetang, auf Stelzen, aus sehr stabil anmutenden, Algen gebaut. Sie wiegten sich sanft im Strom, als würden sie atmen.

Valeria konnte kaum glauben, was sie sah. Sie war in Städten gewesen – auf den Inseln, in alten Häfen. Doch nichts war wie dies.

Tia schwamm langsam, gab ihr Raum. Führte sie durch die breiten, leuchtenden Korallengänge, an deren Wänden sich Spiralen aus Seegras rankten und in deren Schatten sich Wesen ihrem geschäftigen Treiben nachgingen.

Ein Schwarm kleiner Laternenquallen glitt vorbei und streute goldenes Licht auf eine alte Marmorfassade, an der zerfressene Statuen standen – halb Mensch, halb Ungeheuer. An einer Kreuzung verzweigten sich die Tunnel. Ein Durchgang weit genug für einen Wal. Ein anderer, so eng, dass selbst Valeria als Hai sich hindurch quetschen hätte müssen. Und überall war mehr und mehr Leben. Lachen, Gesänge in Sprachen, die sie nicht kannte. Händler, die mit bunten Perlen und gekerbten Knochen feilschten. Kinder, die durch Algenranken spielten. Krieger in lebenden Rüstungen aus scharfkantiger Koralle, flankiert von riesigen Krebsen mit bemalten Schilden. Tia drehte sich um und blickte sie an. Für einen Moment war ihr Blick ernst, stolz – und seltsam fern. Dann führte sie Valeria weiter.

Höher über dem Grund, auf einem Hang, entdeckte sie etwas Neues: eine gewaltige Halle, sie wirkte unversehrt. Selbst war sie überkrustet mit roten Korallen, ihre Form noch immer majestätisch trotz des Bewuchses. Rund um sie herum formte sich ein Platz, beleuchtet von flackernden Algenlichtern – und einige Gestalten bewegte sich dorthin, als rief sie etwas.

Tia schwamm über den Hang hinab und hielt ebenso auf das eigenwillige Gebäude zu. Neben den beiden schwammen noch ein großer Kalmar und ein Fisch den sie noch nie gesehen hatte, er war lang und schwarz. Sein Maul war gespickt mit langen scharfen Zähnen und seine Augen fluoreszierten im Umgebungslicht. Hinzufügte sich zur Gruppe noch ein Anglerfisch. All diese Wesen hielten auf die überwachsene Kuppel zu. Tia schwamm in ein großes quadratisches Loch, was vermutlich früher einmal ein riesiger Torrahmen gewesen sein musste. Im inneren leuchteten fluoreszierende Algen ihnen den Weg. Es war ein Tunnel der eindeutig wieder nach oben führte. Nach einer kleinen Weile tat sich vor ihnen ein Abzweig auf und Tia wählte den linken Gang die restlichen Wesen schwammen rechts. Einige Meter weiter blieb hielt sie vor einer milchig durchscheinenden Barriere. Valeria konnte nur schlecht erahnen was sich dahinter befand. Einige Schemen schienen dahinter hin und her zu ... gehen. Die Bewegung wirkte nicht wie das sanfte gleiten im Wasser. Tia schlüpfte durch die Barriere. Es war als würde sie von zähflüssigen Gewebe eingeschlossen. Dann begann sie sich zu verwandeln und Valeria konnte gerade noch, bevor Tia auf der anderen Seite verschwand sehen, dass sie ihre Menschliche Gestalt angenommen hatte. Also folgte sie ihr und vollzog ebenso die Wandlung in der sich eigenwillig anfühlenden Masse. Kurz bevor ihre Kiemen verschwanden wurde sie ausgespuckt. Als ihre Beine den Boden berührten konnte sie einen tiefen Luftzug einsaugen. 

Vor ihr erstreckte sich eine Luftgefüllte Halle ohne Wasser. Mit Tia und ihr befanden sich noch ca. 14 weitere Personen in ihr. Im Verhältnis war die Halle also leer. Valeria sah sich weiter um. Die alten Wände bestanden aus Glas das unter dem Druck nicht zerbarst, verstärkt durch Korallen. Sanftes Licht spendeten, wie draußen auch, Algenlampen. Überall waren Schlafnischen, eingelassen in die Wände. Der Raum roch nach Salz, Stein, Tang. Zwei der Bewohner dieser Halle grüßten Tia freundlich. Es schien so als würden sie sich kennen. Dann wandte sich Tia zu Valeria um und sah sie mit ruhigen Augen an.

„Willkommen in Luthe“

 

Mondsilber Tätowierung

Änderung: Tia ist ein Full Moon und kann daher Val die Tattoos nicht geben, das können nur No Moon -> Leviathan ist No Moon er sticht es ihr

Die Luft auf der Insel der Tausend Segel war schwer vom Duft geräucherten Harzes, der salzigen Luft des Meeres und gebratenem Fisches. Nacht hatte sich über die schwimmende Stadt gelegt, doch in diesem Teil des Decks war es trotz des üblichem nächtlichen Treibens still. Keine Musik, keine Stimmen. Nur das Knacken des Feuers im Schalenofen und das leise konstante schwappen des Meeres am Bug des Schiffs.

Tia Damaris saß in der Mitte des Raums – in einer kreisförmigen Markierung aus gemahlenem Perlmutt. 
Neben ihr lagen Werkzeuge, alt und sorgsam gepflegt: Nadeln aus Fischknochen, Halterungen aus geschnitztem Holz, mit Mondsilber überzogen.
Daneben: eine kleine Tonschale.
Darin schwappte das Mondsilber. Seine Oberfläche schimmerte wie das Licht des Mondes am Himmel einer Sternenklaren Nacht. 

Valeria kniete mit entblößtem Rücken vor Tia. Ihr Körper war ruhig – aber unter der Haut brodelte es. Eine Mischung aus Angst, Erregung und Stolz und etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte. 

Tia nahm die erste Nadel.
„Das hier“, sagte sie, „ist keine Verzierung. Keine Auszeichnung.
Das ist Bindung. An dich. An Luna. An deine neue Form.“

Sie tunkte die Spitze in das silberne Metall, das bei Berührung leise zischte. Dann setzte sie an.
Ein scharfer Schmerz bohrte sich in Valerias Haut.
Sie zuckte nicht.

Mit langsamen, rhythmischen Bewegungen begann Tia zu arbeiten.
Der erste Strich zog sich vom unteren Rücken hinauf über die Wirbelsäule – wie eine Welle, die den Strand erklimmt. Die zweite Linie folgte ihrem Schulterblatt, krümmte sich wie ein Strömungspfad in der Tiefe.

Mit jedem Stich zog das Mondsilber in ihre Haut.
Es fühlte sich kalt an – und doch brannte es.

„Du wirst vieles verlieren auf deinem zukünftigen Weg“, murmelte Tia leise. „Aber das hier... das kannst du nie verlieren.“

Stunde um Stunde verging. Tia arbeitete schweigend. Nur der Klang der Nadel, das gelegentliche Rascheln eines Tuchs, das Flattern des Lichts. Linien wuchsen zu Spiralen, Spiralen zu Strömen. Kleine Symbole tauchten auf:
Ein Schiff was von Tentakeln in die Tiefe gezogen wurde. Eine stilisierte Schwalbe. Eine Muschel. Zwei Krallen, die ein Herz halten. Und noch viel Platz für mehr Momente aus ihrer Zukunft.

Valeria sah sie nicht – aber sie fühlte sie.
Jede Linie war ein Kerbe in ihrer alten Welt.
Jeder Bogen eine Brücke in die neue.

Der Schmerz war konstant – wie Wellen, die gegen das Ufer schlugen. Aber er ließ Raum zum Atmen. Raum zum Verstehen.

Irgendwann, zwischen zwei Stichen, sagte Tia:

„Jetzt musst du wählen.“

Drei Tafeln lagen vor ihr, auf jede war ein Symbol eingeritzt:
Ein voller Kreis – Full Moon.
Ein gespaltenes Halbgesicht – Changing Moon.
Ein leerer Schattenkreis – No Moon.

Valeria betrachtete sie lange.
Aber ihre Entscheidung war längst gefallen.

Sie legte ihre Hand auf den leeren Kreis.
„No Moon.“

Tia nickte. Kein Wort der Bestätigung. Kein Lob.

Nur:
„Dann endet hier, der Launenhafte Sturm und ein konstanter Wind im Zeichen des schwarzen Mondes wird dich tragen.“

Sie setzte zu den letzten Stichen direkt zwischen Valerias Schulterblätter – dort, wo das Herz am nähersten war - an.
Sie zeichnete einen schwarzen Nachthimmel ohne Mond. 

Tia setzte den letzten Stich.
Das Mondsilber zog sich langsam in die Haut zurück, schimmerte noch kurz – dann versank es vollständig. Die Linie war glatt. Vollendet. Unumkehrbar.

Valeria atmete ein. Tief.
Dann hielt sie den Atem an.

Etwas veränderte sich.

Zuerst kaum spürbar – wie das Abebben einer Welle.
Dann stärker. Wie wenn man feststellt, dass der Lärm, den man die ganze Zeit ertragen hatte, plötzlich verstummt war – und man merkt, wie sehr man ihn ertragen hatte.

Ihre Haut... spannte nicht mehr.
Ihre Muskeln... zuckten nicht mehr unkontrolliert.
Das Tier in ihr – der Sturm, die Launen des Mondes, der Hunger - es war noch da - aber nun waren es kontrolliert.

Nicht gezähmt.
Aber verankert.

Valeria spürte, wie sich ihre Gedanken klärten – als wären sie aus dichten Wasserschichten aufgetaucht. Sie war noch immer sie. 
Aber jetzt bekam ihr inneres eine feste Gestalt.

Ihre Laune verzog nicht mehr ihren Körper.
Ihr Zorn rammte nicht mehr seine Zähne in ihr Fleisch.
Der Wandel war nicht mehr Reflex – sondern Wahl.

Sie öffnete die Augen. Und zum ersten Mal seit ihrer Exaltation sah sie die Welt,
ohne dass sie mit sich selbst rang.

Tia Damaris sah sie schweigend an. Dann flüsterte sie leise:

„Und? Wie fühlt es sich an?“

Valeria lächelte.
Kein Grinsen. Kein Zähnefletschen.
Ein stilles, klares Lächeln.

„Wie ankommen.“

 

Geburtstagsgeschenk 

Die Gischtläufer lag ruhig vor Anker.
Ein mondloser klarer Abend über Seehaven, im Meer spiegelten sich die Sterne des dunklen Firmaments.

Im Inneren des kleinen Essraums war es warm und heimelig.
Laternenlicht warf weiche Schatten an die Wände. Die Luft roch nach Zimt, gerösteten Nüssen – und Erinnerungen.

Valeria – Saekha – saß auf ihrem Platz am Tisch.
Ihre Tasse war halbvoll. Die Stimme ihres Vaters im Ohr. Das Lachen Nakoas wie ein fernes Echo.
Sie wusste, warum sie eingeladen war.

Heute war ihr Geburtstag und damit der Gedenktag an die verstorbene Tochter Valeria, zu dem sie als Saekha eingeladen wurde, als enge Freundin der Familie. 

Und es war bittersüß.
Denn während sie dasaß, in einer anderen Haut, saß sie zugleich außerhalb ihres eigenen Lebens.
Das Gesicht, das ihre Eltern sahen, war nicht ihres. Aber alles andere – ihre Stimme, ihre Haltung, ihr Blick – war es.

Und dies hinterließ oft einen bittersüßen Schmerz bei ihr und ihren Eltern. Die Erinnerung an Valeria tat weh.
Ihre Eltern spürten ihre Tochter, die doch eigentlich tot war.

Valeria hatte geglaubt, das Spiel noch weiterspielen zu können. 
Doch an diesem Abend sollte sich alles ändern.

Ihre Eltern teilten mit ihr gemeinsame Geschichten aus Valerias Lebzeiten, um ihr zu gedenken. Saekhas Augen füllten sich Stück für Stück mit Tränen und ihr Herz wurde schwer, als sie ihre Eltern so leiden sah. Wie lange würde sie dieses Schauspiel noch aufrecht halten können ohne selbst daran zu zerbrechen. Hiervor hatte Tia sie eindringlichst gewarnt. "Es wird dich zerreißen und dann wirst du einen Fehler begehen." 

Manako stand plötzlich auf und verschwand kurz. Als er zurückkam, hielt er ein sorgfältig in Tuch eingeschlagenes Bündel in den Händen.
Er legte es behutsam auf den Tisch und wickelte es aus.

Ein altes Fernrohr, salzgebleicht, das Metall stumpf – aber gepflegt.

„Ihr erstes Fernrohr“, sagte er leise.
„Zum vierzehnten. Seitdem hat sie’s überallhin mitgenommen.“
„Und immer, wenn sie am Morgen den Horizont geprüft hat, sagte sie...“


„…Der Horizont wartet auf mich." ohne dass Valeria diese Worte zurück halten konnten, kamen sie ihr reflexartig über die Lippen.

Für ihre Familie kamen die Worte aus Saekhas Mund. Doch diese hätte sie nicht kennen können.

Stille.
Wie nach einem Blitzschlag auf offener See.

Maelani hob den Kopf.
Ihre Finger zuckten vom Tisch zurück, als hätte sie sich verbrannt.

Langsam stand sie auf.
Der Blick fest auf Saekha gerichtet.

„Was hast du gesagt?“
Valeria atmete tief durch. Jetzt war es geschehen und ihr inneres sehnte sich danach sich endlich zu offenbaren.  Sie hatte genug geschwiegen. Sie könnte ihnen alles erklären und dann würden sicher die düsteren Prophezeiungen ihrer Mentorin nicht eintreten. Es waren doch schließlich ihre Eltern. 

„Ich habe gesagt, dass der Horizont auf mich wartet.“ 

Vorsichtig stand sie auf, trat zu ihrer Mutter heran und nahm ihre Hände in die ihren. 

"Mama ... ich  ... " ihre Stimme brach, wie sollte sie es nur aussprechen. 

In ihren Augen: ein Kampf zwischen Hoffnung, Furcht und Liebe.
Das selbe spiegelte sich im Gesicht ihrer Mutter wieder, bis sie schließlich die Augen schloss und ihre Hand ausstreckte, zögernd, dann legte sie sie an Saekhas Wange.

„Valeria… bist du es?“

Ein Schluchzen drohte ihr die Stimme zu rauben.

Ihr Bruder und Vater hielten den Atem an.

Valeria griff nach der Hand ihrer Mutter. Ihre Finger waren warm und Zittrig.

„Ich bin nie wirklich fort gewesen. Ich war nur...
zu viel geworden für mein altes Leben.“
„Aber heute... ich will nach Hause.“

Dann ließ sie ihre Maske fallen.

Ein leichter Schimmer legte sich über ihre Haut.
Ihr Haar verdunkelte sich, bis auf die silberne Haarsträhne, wurde voller, wie vom Wind getragen.
Die Silhouette ihres Körpers veränderte sich – erst kaum merklich, dann deutlich.

Ihre Wangenknochen, ihre Haltung, die Farbe ihrer Augen.
Der Schatten, der sich an die Wand warf, war plötzlich ihr eigener.

Sie nahm die Gestalt an, in der sie geboren worden war.

Valeria stand nun im Raum. 

Nakoa riss erschrocken die Augen auf.
Manako wich einen Schritt zurück – nicht aus Angst, sondern aus Ehrfurcht.

Maelani hatte die Augen bei den letzten Worten ihrer Tochter wieder geöffnet und beobachtete das Schauspiel der Verwandlung mit den Hände vor den Mund.

"Götter ... Wie ... Valeria?! Du bist es wirklich!" 

Maelani presste sie in eine Umarmung.
Nicht zaghaft.
Nicht unsicher.

Sondern wie eine Mutter, die endlich das zurückbekam, was sie nie loslassen konnte. Ihr tot geglaubtes Kind.

Valeria begannen große Tränen über die Wangen zu laufen und vergrub ihr Gesicht in den, nach Gischt riechenden Haaren ihrer Mutter. 

"Ich dachte ihr hättet Angst vor mir und dachte so wäre es einfacher. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Es ... es ... tut mir so leid." Valeria hob die Arme und umklammerte ihre Mutter in Panik sie wieder verlieren zu können. Sie wollte ihre Familie nie wieder verlieren. 

"Vor zwei Jahren ... ich bin so viel mehr geworden. Ich weiß nicht wie ich es erklären soll."

Manako erwachte aus seiner Ehrfurcht. Er sah seine Tochter zum ersten mal nach zwei Jahren. Obwohl sie war eigentlich nie weg gewesen. Vorsichtig trat er an seine Tochter heran, die verzweifelt um Worte rang und legte ihr bestimmt die Hand auf ihre Schulter. 

"Du bist unsere Tochter Valeria, egal wie viel mehr du geworden bist."

Auch ihr Bruder kam dazu und umarmte sie alle. So standen sie da. Endlich wieder vereint.

Die darauffolgenden Tage legte die Gischtläufer nicht ab und die Crew hatte unerwartet Frei bekommen. In diesen Tagen erzählte Valeria ihrer Familie alles und ihre Familie hörte zu. Am Ende erneuerte ihr Vater, stellvertretend für die Familie, sein Versprechen. "Du wirst immer unsere Tochter sein." Und damit wurde Saehka Valeria und Valeria wurde Saehka. Die Familie verstand, dass ihre Tochter für die Augen der Anderen immer ein anderes Gesicht auflegen musste, aber das hielt sie nicht ab sie zu diversen Feiern der Sippe einzuladen. Aber so war es in Ordnung. Ihre Eltern sahen Saehka nicht mehr mit Schmerz in den Augen an, wenn sie sich wie Valeria verhielt sondern mit purer Freude. Ihre Tochter war zurück. 

 

Renjiro Peleps

Ruhe dich kurz aus. Wir werden gleich weiter schwimmen zu einer Ratsversammlung der du beiwohnen wirst“, sagte sie. „Sie findet regelmäßig statt – eine Art Forum, in dem über aktuelle Entwicklungen, Gefahren oder Pläne gesprochen wird die für die Bewohner von Luthe relevant sind. Zu diesen Versammlungen kommen Viele. Einige dürfen sprechen. Auch Leviathan wird sich äußern.“

Sie hielt kurz inne, musterte Valerias Gesicht. "Wenn du soweit bist brechen wir auf."

Valeria nickte langsam, die lange Verwandlung hatte ihren Tribut gefordert. Sie war gerade dabei ihre Zeitfenster auszuweiten, daher nutzte sie das Angebot und ließ sich auf eine der eingelassenen Liegen am Rand der Halle nieder. Der Stein war überraschend warm, durchzogen von feinen Linien lebender Koralle, die bei ihrer Berührung ein leises, kaum hörbares Summen von sich gaben. Es war beruhigend – wie der Herzschlag eines riesigen Wesens.

Sie streckte sich aus, spürte das Salz noch auf ihrer Haut, die Müdigkeit in ihren Gliedern, aber auch das Nachhallen der Eindrücke. Ihr Blick wanderte zur gewölbten Decke über ihr, wo feine Lichtadern durch das Korallengeflecht pulsierten. Sie wirbelten wie Sterne in einem fremden Nachthimmel, tanzten in Farben, die sie nicht benennen konnte. Ein kleiner Schwarm leuchtender Fischchen glitt lautlos durch die Algenranken über ihr, und irgendwo summte eine Melodie, gespielt auf einem Instrument, das wie aus Wasser selbst geformt klang.

Valeria schloss kurz die Augen. Für einen Moment war alles in ihr still – keine Fragen, kein Zorn, keine Sehnsucht. Nur der Atem dieser versunkenen Welt.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit verstrich. Doch als sie die Augen wieder öffnete, fühlte sie sich wacher. Nicht ausgeruht wie nach Schlaf – sondern wie geschärft, bereit, die nächste Schicht dieser fremden Welt zu durchdringen.

Sie erhob sich und ließ ihre Blicke durch den Raum wandern, auf der suche nach Tia. Diese hatte sich in der Nische neben ihr niedergelassen und es schien, dass auch sie dieselbe frische Energie durchdrang. Ihre Blicke kreuzten sich und Val gab ihr zu verstehen, dass sie nun bereit war. 

Sie verließen die Kuppel durch einen schmaleren Tunnel, diesmal mit festen, glatten Böden. Wasser gluckerte leise durch Risse in der Wand, wurde jedoch durch dicke Membranschichten ferngehalten. Der Gang mündete in eine breite Treppe, die spiralförmig nach oben führte. Algenlichter pulsierten in regelmäßigen Abständen entlang der Wände, als atme das Bauwerk selbst.

Dann öffnete sich der Weg zu einer weiten Halle – der Versunkenen Halle, wie Valeria später erfahren würde.

Sie war gewaltig. Die Kuppel spannte sich über ihnen wie eine umgestülpte, mit Korallen bewachsene Schale. Licht fiel durch eingelassene Fenster aus verstärktem Glas in goldenen Schleiern herab und brach sich auf metallischen Statuen und Mosaiken längst vergessener Helden. Trotz ihrer Tiefe lag eine fast sakrale Stille über dem Raum, durchbrochen nur vom gedämpften Murmeln zahlreicher Stimmen.

Ränge aus schimmerndem Stein formten ein Amphitheater, die Hälfte davon war mit einer Membran umgeben und mit Wasser gefüllt, so konnten Luftatmer und Nicht-Luftatmer entspannt an der Versammlung teilnehmen. In der Mitte des Amphitheaters stand ein ovales Podium. Einige Plätze waren bereits besetzt: Fischwesen mit aufwendig geflochtenen Schmuckpanzern, Kriegerinnen in Algenrüstungen, auch einige Menschen – wohl Luftatmer – mit tätowierten Gesichtern und leuchtenden Augen. In der Kuppelspitze glommen Symbole, die sich langsam verschoben wie die Ziffern einer alten Uhr.

Dann plötzlich, ging ein Raunen durch die Menge. Ein Schatten bewegte sich am Rand der Halle. Langsam. Schwer. Er trat aus einem Seitenbogen in die Mitte – und sofort wich ein Teil der Anwesenden respektvoll zurück.

Leviathan betrat die Halle.

Er war ein Riese. Sicher über zwei Meter groß, mit Schultern wie ein Kriegsschiffsrumpf. Seine Haut wirkte wie das polierte Leder eines Orcas, durchzogen von silbrigen Linien, alten Zeichen und lunaren Glyphen. Haare wie Seetang fielen ihm über den Rücken, in dicken Strähnen geflochten. Seine Augen waren schwarz – und tief. So tief, dass man fast meinte, darin die Zeit selbst zu sehen.

Valeria spürte, wie ihre Kehle trocken wurde.

Leviathan sagte noch kein Wort. Er ging ruhig durch die Mitte, die anderen Ratsmitglieder verneigten sich oder blickten respektvoll zu ihm auf. Als er die Mitte des Podiums erreicht hatte blieb stehen. Sah sich um. Und dann – ganz ohne jede Ankündigung – begann er zu sprechen. Seine Stimme war tief wie das Meer selbst. Kein Rufen, kein Befehl – nur ein Sog, der jeden Gedanken mit sich zog.

„Es gibt Orte, an denen die Tiefe nur Finsternis bringt.“ Er machte eine Pause. Im Raum war es still. „Doch hier – hier hat sie uns verwandelt.“ Ein leises, aufmerksames Murmeln ging durch die Halle. „Wir sind nicht, was wir waren. Nicht das, was wir hätten sein sollen. Und dennoch... sind wir.“ Sein Blick wanderte durch die Versammelten. Für einen Moment trafen sich seine Augen mit Valerias. Etwas regte sich in ihr – wie ein Ruf, der durch Kiemen ging, nicht durch Ohren. „Die Tiefe ist Erinnerung“, sagte er. „Und Erinnerung ist keine Schwäche. Sie ist das Netz, in dem unsere Zukunft gewebt wird.“

Die Halle hielt den Atem an.

„Diese Stadt war gefallen. Und doch steht sie. Nicht in derselben Form – sondern in eurer. Jeder Stein, den ihr nicht verlasst. Jede Koralle, die ihr flechtet. Jeder neue Name, der hier gesprochen wird. Ihr seid Luthe.“ Schweigen. Dann ein leises, ehrfürchtiges Summen in der Versammlung – wie das Echo einer alten Hymne, unter Wasser geträumt.

Tia stand neben Valeria, legte ihr eine Hand auf den Rücken. Ihre Schülerin erkannte, dass der Geist ihrer Shahan Ya im Gesagten voller Freude und Ehrfurcht mit schwamm.

Die Begegnung

Die Versammlung löste sich allmählich auf. Gruppen bildeten sich, Stimmen wurden leiser, manche verließen schweigend die Halle durch die gewölbten Gänge. Valeria stand noch immer an ihrer Stelle, als Tia sich langsam zu ihr drehte.

„Komm mit“, sagte sie leise. Ihre Stimme war ruhig, fast ehrfürchtig. „Jetzt ist der richtige Moment.“

Sie durchquerten die Halle, vorbei an Lunaren, Bestienvolk, alten Gesandten und jungen Kämpfern. Einige warfen Valeria neugierige Blicke zu – sie war neu, unbekannt. Eine Schülerin. Noch niemand. Aber sie spürte, dass sich etwas veränderte.

Leviathan stand allein am Rand des Podiums, nahe einem Wandbecken, in dem ein sanft leuchtender Tang wuchs. Er hatte sich nicht verändert – er wirkte noch immer wie etwas, das nicht ganz in diese Welt gehörte. Groß. Schwer. Alt wie die Tiefe selbst.

Als sie näherkamen, drehte er sich um. Kein Zögern. Kein erstaunter Blick. Nur ein leises Innehalten, das schwerer wog als tausend Worte.

Seine Augen lagen auf ihr.

„Du bist tiefer geschwommen, als viele es wagen.“

Valeria erwiderte seinen Blick. Sagte nichts.

„Und du bist angekommen, ohne zu fragen, was dich erwartet.“
Eine kurze Pause. Dann ein fast unmerkliches Nicken – vielleicht für sich selbst.
„Das ist gut.“

Tia sagte kein Wort. Sie trat nur zur Seite, ließ die Strömung zwischen ihnen fließen.

„Diese Stadt spricht nicht. Sie erinnert sich.“
Seine Stimme war ruhig, aber voller Gewicht.
„Manche kommen, um zu hören. Andere, um gehört zu werden. Und dann gibt es jene... die einfach still sind. Und bleiben.“

Val spürte, wie sich die Kuppel über ihr noch größer anfühlte – wie der Druck der Tiefe, nur ohne Enge. Es war, als würde die Stadt selbst zuhören.

Leviathan trat einen halben Schritt näher. Keine Bedrohung – nur Nähe.
„Die Tiefe nimmt. Und manchmal... gibt sie zurück.“
Er sah sie an, als würde er etwas in ihr lesen, das nicht ausgesprochen werden konnte.

"Nimm was du erhältst und nutze es weise, für deine neue Zukunft."

Dann wandte er sich ab und ging. Ohne Gruß. Ohne Verabschiedung. Nur die Bewegung eines Wesens, das weiterzog – wie eine Strömung.

Tia blickte Valeria an. Und diesmal war ihr Blick nicht mehr stolz oder prüfend. Nur still und zärtlich.

„Er hat dir zugehört“, sagte sie.

Valeria schwieg. Dann flüsterte sie: „Ich weiß.“

 

Renjiro Peleps

 

Die Dschunke, auf der Valeria sich eingeschlichen hatte, wirkte auf den ersten Blick wie jedes andere Piratenschiff, das die westlichen Meere durchpflügte – verwittert, funktional, mit Segeln, die oft genug geflickt worden waren, um jede Geschichte aus ihnen zu treiben. Nichts an der Bemalung oder an der Crew verriet, dass es sich in Wahrheit um ein Werkzeug des Realm handelte. Genau das war ihre Tarnung – ein falsches Schiff unter falscher Flagge.

Valeria hatte sich mit einem meisterhaft gefälschten Versetzungsschreiben von Haus Peleps an Bord geschlichen. In der Gestalt von Saehka – einer Piratin, die einst Teil jenes Überfalls auf Valerias Familie war – hatte sie sich unter die Mannschaft gemischt. Ihre Rolle war klar: Als neue Steuermannsfrau sollte sie das Schiff unauffällig von seinem ursprünglichen Kurs abbringen, um es in die Falle von Tias wartenden Kriegsschiffen zu lotsen. Dort sollte ein Zeichen gesetzt werden für die gegen die finstere Intrige des Realm, der im Westen unter falscher Flagge mordete, nur um sich dann als Retter der Küstenstädte aufzuspielen.

Da geschah es. Noch ehe der Kapitän einen Befehl geben konnte, wurde das Stimmengewirr an Deck von einem plötzlichen, eigentümlichen Schweigen durchbrochen. Schritte hallten über die Planken – ruhig, bestimmt – und dann trat er an Bord: Peleps Renjiro.

Er kam nicht wie ein Sturm, nicht mit Gewalt – sondern mit der stillen, unnachgiebigen Präsenz einer tief verwurzelten Eiche. Seine Rüstung bestand aus kunstvoll gefügter Jade in Weiß, Blau und sattem Grün. Auf den grünen Platten waren feine Blattfresken eingraviert, als würde der Atem des Waldes auf seinem Brustpanzer ruhen.

Das Sonnenlicht spiegelte sich an den Kanten selbiger, tanzte über die Oberfläche wie über Tau auf jungem Laub. Und obwohl seine Schritte leise waren, trugen sie eine Wucht in sich, nicht von Gewicht, sondern von Überzeugung.

Ein paar Seemänner, die eben noch gelacht hatten, verstummten. Einer wich zurück, als hätte er ihn kaum bemerkt. Renjiro sprach kein Wort. Doch seine bloße Anwesenheit brachte die Männer zur Ruhe und die Kämpfer in Habachtstellung.

Er marschierte direkt auf den jungen Kapitän zu, der sich gerade mit einigen Offizieren über die Seeroute unterhielt. Die Offiziere wichen schlagartig zur Seite zurück.

„Du wagst es, diesen Dreck zu rechtfertigen?“ Renjiros Stimme war schneidend und laut genug, dass das ganze Deck lauschte. „Die Ermordung ganzer Mannschaften ziviler Schiffe unter dem Vorwand, den Westen zu stabilisieren? Glaubst du wirklich, der Preis für Einfluss ist Verrat an deiner Ehre?“

Der junge Drachenblütige – Valeria erinnerte sich, dass man ihn Peleps Naren genannt hatte – senkte den Blick, rang nach Worten, fand aber keine. Renjiro ließ ihn nicht aus den Augen.

„Das hier ist kein Feldzug für Gerechtigkeit. Es ist ein Werk feiger Mörder, die hoffen, ihr Werk unter fremden Farben zu verbergen. Ich lasse nicht zu, dass unser Name in diesen Abgrund gezogen wird.“

Mit diesen Worten packte Renjiro seinen jüngeren Verwandten am Arm. Niemand wagte, sich zu rühren. Der Befehl zum Ablegen wurde wortlos aufgehoben. Die Mannschaft, eben noch bereit zum Aufbruch, stand unschlüssig, einige mit wachsendem Unbehagen, da.

Valeria stand am Steuerstand, das gefälschte Schreiben noch in ihrer Tasche, den Griff des Kompasses in der Hand. Ihr Herz pochte laut. Was war gerade geschehen? Ein Dragonblooded mit Gewissen? Faszinierend. 

Sie warf einen letzten Blick zu ihm, als er Naren über die Gangplanke führte. Schnell bewegte sie sich zur Reling, lehnte sich über die Bordkante, um das Gesicht des Drachenblütigen noch einmal genau zu erfassen. Hohe Wangenknochen. Die Haut wie poliertes Olivenholz. Dunkles, zurückgebundenes Haar und grüne Augen. Sie prägte sich jedes Detail ein. 

Zurück unter Deck hatte sich die verwirrte und etwas im Regen stehen gelassene Crew versammelt. Jeder suchte das Gespräch um zu beratschlagen, was sie nun tun würden. Diese Gelegenheit nutzte Valeria, um Informationen, von dem für sie unbekannten Dragonblooded, zu erfahren. Ein Matrose, erklärte gerade dem Schiffsjungen mehr zu der interessanten Person und Valeria stellte sich einfach unauffällig daneben. „Wer war das?“, fragte der braunharige Bursche. „Das war Peleps Renjiro. Wood-aspected Dragonblooded. So einen wie den triffst du nicht oft. Der kommt nur, wenn's richtig stinkt.“ - „Ist er von der Admiralität?“ „Nicht direkt. Der hat Einfluss, aber spielt sein eigenes Spiel, glaub ich. Man sagt, dass er gern sauber macht, was andere dreckig hinterlassen. Das hat ihm vermutlich auch den Posten auf diesen Inseln hier eingebracht. Für jemanden wie ihn ist das eine Bestrafung.“ Zu den beiden gesellte sich noch der Smutje des Schiffes: „Ich habe gehört, dass er irgendwo nähe Seehaven wohnt. Er hält sich meist fern von dem großen Königspalast des Realms. Das sagt schon vieles über seine Verhältnisse aus. Der hat seinem Haus wohl mal ordentlich an den Karren gepisst.“ Die drei lachten schelmisch bei dem Gedanken, das ein Dragonblooded aus seinem eigenen Nest geworfen wurde. Wenn das stimmte, hatte er es sich wirklich verspielt mit seinem Haus. Ganz beiläufig bemerkte Valeria, dass das doch nicht wahr sein konnte, das er nicht im Palast wohnte. Wo sollte denn so jemand denn sonst wohnen. Hierauf erhielt sie nur wage andeutungen. Er soll angeblich sogar nicht mal in Seehaven selbst wohnen, nur in einem kleinen Vorort. Aber alle gestanden, dass dieses Gerede nur auf Gerüchten basierte. "Und was sagt man hatte er getan, um so verschmät und denunziert, von seinem eigenen Haus zu werden?" Der Smutje hatte wohl die meisten Gerüchte zu ihm gehört und teilte sie sehr bereitwillig. „Es geht das Gerücht, dass er außerhalb des Hauses eine Mätresse hatte. Irgendeine Gelehrte – und sie soll von ihm ein Kind bekommen haben, anstelle von seiner Frau und das noch 4 Jahre vor der Zeit. Tatsächlich sollte es dann auch noch ein Dragonblooded gewesen sein, aber natürlich viel schwächer als wenn er die 4 Jahre gewartet hätte. Du kannst dir den Frust seiner eigentlichen Frau vorstellen, denn wenn sie ein Kind zeugen wollte, was starke Kräfte haben sollte, würde sie selbst weitere 10 Jahre warten müssen.“ Valeria zog theatralisch die Luft ein. "Wenn das wahr ist verstehe ich die Schmähung. Da hat er sich wohl deutlich in die nesseln gesetzt!" Dieses Gerücht hörte sich schon mehr wie nach einem Dragonblooded an. Allerdings, Valerias Bauchgefühl sagte ihr, das dieser Dragonblooded anders war und dieses Gefühl ließ ihr keine Ruhe, daher beschloss sie mehr über diesen, augenscheinlich vom Realm bestraften, Dragonblooded herauszufinden.

Die Dschunke war längst entladen, und die Crew hatte sich in alle Winde zerstreut. In der Hafenstadt wirkte es, als wäre nie etwas geschehen. Doch Valeria blieb. Etwas ließ sie nicht los, der Zwischenfall mit Peleps Renjiro.

Tia hatte ihr, nachdem sie von der gescheiterten Operation berichtet hatte, bei der drei ihrer Kaperschiffe unverrichteter Dinge zur Insel der Tausend Segel zurückkehren mussten, deutlich davon abgeraten, dem Verhalten dieses Dragonblooded zu viel Bedeutung beizumessen. „Ein Dragonblooded tut niemals etwas uneigennütziges“, hatte Tia scharf gesagt. „Sie sind allesamt egozentrische, machtgierige Bastarde, die nicht wissen, wo ihr Platz ist.“ Valeria hatte noch ein, zwei Versuche unternommen, Tia zu widersprechen. Sie hatte versucht anzudeuten, dass dieser Mann womöglich eine Chance bot, das Realm von innen zu schwächen. Doch Tia war ihr verächtlich ins Wort gefallen, das Schnauben in ihrer Stimme kaum verhohlen. „Hör auf mit diesen Hirngespinsten. Sie sind nicht ehrlich. Und schon gar nicht sozial. Schreib dir das hinter die Ohren.“ Valeria biss sich auf die Zunge. Sie ließ das Thema ruhen, zumindest nach außen hin.

Doch in den drei Nächten darauf lag sie wach. Immer wieder wog sie Tias Worte gegen ihr eigenes Gefühl ab. War sie naiv? Oder hatte sie etwas gesehen, das Tia nicht sehen konnte – oder nicht sehen wollte? Am Morgen des vierten Tages traf sie eine Entscheidung. Wenn dieser Renjiro wirklich anders war, dann würde sie es herausfinden. Und wenn sie sich getäuscht hatte, würde sie ihre Lektion lernen. Doch wenn nicht … dann war er vielleicht genau die Möglichkeit, nach der sie gesucht hatte. Eine Tür ins Herz des Realm.

Einige Tage später, in der Stadt Seehaven, saß Shaeka in der „Seebrise“. Dieses Etablissement war eine jener besseren Hafenkneipen, die darauf achtete, dass das Bier kühl, die Tische stabil und die Gäste halbwegs respektabel blieben. Vor allem aber war sie bekannt dafür, dass sich hier nach Einbruch der Dunkelheit oft Marinesoldaten und Beamte des Realm versammelten. Jene, die ihren Feierabend in Ruhe mit Kameraden verbringen wollten.

Valeria, in Saehkas vertrauter Haut, saß an einem Tisch nahe der Fensterfront, von wo aus sie sowohl den Eingang als auch die Bar im Blick hatte. Ein Tonkrug mit Portwatcher’s Twist stand vor ihr, zur Hälfte geleert. Sie trug die Haltung einer Seefrau zur Schau, die gerade einen anstrengenden Tag hinter sich hatte, nicht auffallen wollte und gern bereit war, sich ein paar Geschichten anzuhören.

Am Nachbar Tisch saßen zwei Männer, welche sichtlich zum Verwaltungsapparat des Realms gehörten. Ihr feinerer Schnitt, die nicht ganz billigen Stoffe und der Tonfall verrieten sie. „Götter, ich schwöre dir, heute war wieder einer dieser Tage.“ Der Erste, ein von der Statur her, gemütlich wirkender Mann mit schmalem Gesicht und müden Augen, rieb sich die Stirn, als würde die Erinnerung ihm Kopfschmerzen bereiten. „Da kommt dieser Dragonblooded aus dem Nichts in mein Büro gestiefelt – trägt Jade und tut so, als hätte er mein Amt erfunden.“

Sein Kumpan hob neugierig die Braue. „Welcher?“ - "„Renjiro Peleps, recht großgewachsen, schwarzes, mit typischen grünen Schimmer für einen Wood Aspect versehenes, langes Haar. Er war tatsächlich eher in gediegener Kleidung erschienen. Sehr untypisch für einen seinen Standes. Aber was interessierts mich. Fakt ist, dass er mir einen gefühlten einstündigen Monolog über die schlechten Verhältnisse der Reisbauern, welche für das Realm arbeiten, gehalten hat. Du kannst dir nicht vorstellen, wie mir danach der Schädel brummte vom konstanten lächeln und nicken." Der andere lachte kehlig.

„Der meinte doch tatsächlich, mir erklären zu müssen, wie wir unsere landwirtschaftlichen Außenposten organisieren sollten.“ Der Beamte schüttelte ungläubig den Kopf. „Weil, und jetzt kommt’s – die Feldarbeiter angeblich nicht genug verdienen. „Und? Tun sie das?“ Der zweite klang amüsiert. „Natürlich nicht! Aber das ist doch nicht mein Problem. Wenn sie zwei Anstellungen brauchen, um durchzukommen, sollen sie eben Zwei ausüben. Wir sind hier nicht die Wohlfahrt.“ Er nahm einen tiefen Schluck und setzte dann trocken hinzu: „Ich habe ihm gesagt, wenn er was ändern will, soll er mit seinem Vorgesetzten reden. Ich bin sicher nicht derjenige, der einem Hochwohlgeborenen erklären wird, dass wir keine weiteren Münzen für diese... Wilden verschwenden.“ „Hat er’s geschluckt?“ - „Nicht wirklich. Aber er hat’s auch nicht weiter eskaliert. Ist wortlos gegangen, wie ein beleidigter Lehrer, dem man die Hausaufgabe verweigert hat." Der zweite Beamte lachte, dann stießen sie an.

Valerias Finger umklammerten den Becher, als wolle sie das Tongefäß zerdrücken. Die Adern auf ihrem Handrücken traten hervor genauso wie die kleine Ader auf ihrer Stirn. Diese selbstgefälligen Säcke. Die Art, wie sie über ihre Leute sprachen, als wären sie lästiges Vieh, das sich gefälligst zu ducken hatte und danken sollte - es brannte in ihr wie Feuer unter der Haut. Zwei Männer, weichgesessen, mit feinen Händen, die nie eine Erntesichel geführt oder Schlamm an den Stiefeln gespürt hatten und die sich anmaßten, über den Wert andere zu urteilen. Ein einziger Gedanke schoss ihr durch den Kopf: "Ich könnte aufstehen. Sie packen. Einen gegen die Wand drücken. Dem anderen die Worte aus dem Mund schlagen, bis er merkt, wie seine Arroganz schmeckt."

Ihre Muskeln spannten sich. Nur ein Schritt, ein Satz und sie hätte sie. Doch sie atmete tief durch und zwang ihre Finger, den Becher loszulassen. Nicht hier und nicht jetzt. Ihre Tarnung war zu wertvoll. Sie schloss die Augen für einen Moment, als würde sie die Hitze in sich einsperren. Dann hob sie den Becher, trank einen langsamen Schluck und zwang sich zur Ruhe. Die beiden Männer plauderten weiter, ahnungslos. Sie waren es nicht wert.

Aber er ... er war es vielleicht. Wenn er wirklich versucht hatte, etwas zu ändern, war er mehr als nur ein arroganter Drachenblütiger. Und genau das würde sie jetzt herausfinden. 

Nach dem belauschten Gespräch in der Seebriese, beschloss sie vor dem Verwaltungsgebäude unauffällig zu warten. Denn wenn er seinen Plan noch nicht aufgegeben hatte würde er zurück kommen, um zu versuchen, die Beamten dazu zu bewegen, den Feldarbeitern mehr Lohn auszubezahlen. Und tatsächlich nach knapp sieben Tagen kehrte er zurück, kurz bevor Valeria die Hoffnung aufgegeben hätte. 

Er kam zu Fuß und ohne Begleitung in der Hand hielt er fest umschlossen eine Pergamentrolle. Seine Kleidung war untypisch schlicht für einen Dragonblooded. Sie bestand immer noch aus edler Seide, aber die Farben waren etwas gedeckter, der Schnitt nicht zu pompös, er hätte auch ein gut betuchter Angestellter des Realms sein können, wäre da nicht das Grün in seinen Haaren und die Haltung die allen Umstehende dazu veranlasste für ihn auf die Seite zu gehen. Das war ihr Moment, sie wartete bis er wieder das Gebäude verließ und folgte ihm vorsichtig im Schatten und mit sicherem Abstand, durch die engen Gassen der Stadt und schließlich hinaus ins Umland.

Das Gerücht, dass er nicht im Palast des Realms wohnte stimmte wohl, denn die Spur folgte bis zu einem kleinen Ort namens Kaimana, einem Dorf nahe Seehavens und der Küste, wo bunte Boote im Sand lagen und Kinder zwischen den Palmen spielten. Am Rand dieses scheinbar einfachen Ortes erhob sich ein Haus, das nicht hierher zu gehören schien. Ein stattliches Anwesen, aus hellem Stein und dunklem Holz erbaut, von einem weitläufigen Garten umgeben, der sich bis zur Klippe hinab zum Meer erstreckte. Der höchste Punkt des Hauses überragte das Dorf wie ein stiller Wächter. Ihr war klar, das diese Prunkbaute sein Zuhause war. Das Gelände war mit einer Mauer umgeben ebenso schien es, dass regelmäßig Wachen das Gelände abpatrouillierten. Demnach würde es für sie schwer werden einfach über die Mauer zu klettern, um in das Gelände einzudringen. Allerdings hatte das Gelände einen Wasserzugang und diesen konnte sie nutzten, dort wurde auch nicht zu regelmäßig Patrouilliert, weil die Steinküste es Booten schwer machte dort anzulanden. Aber als Hai wäre das keine allzu große Herausforderung. 

In der folgenden Nacht glitt sie beinahe lautlos vom Meer her in das Grundstück. Im Waschhaus fand sie eine Leinenrobe, wie sie die Bediensteten trugen. Sie passte gut genug. In der Gestalt Shaekas, die er sicher nicht wahrgenommen hatte, schlich sie sich als Dienerin in den Bediensteten Flügel. 

In den folgenden Tagen hielt sich Valeria im Anwesen von Renjiro versteckt. Sie bewegte sich wie eine einfache Dienerin, verrichtete kleine Arbeiten, wischte in Gängen, die sie schnell verlassen konnte, und stellte sich bei Fragen als Neuzugang vor, der erst seit Kurzem angelernt wurde. Dem Majordomus ging sie so gut es ging aus dem Weg.

In ruhigen Stunden, meist nachts, durchstreifte sie still das Haus, auf der Suche nach Hinweisen. In einem der oberen Arbeitszimmer, fein eingerichtet mit Regalen voller Schriftrollen, kleinen Bonsai-Bäumen und einem leise vor sich hin tropfenden Zimmerbrunnen, wurde sie fündig. In einer Schublade fand sie ein offizielles Schreiben, das seine Versetzung in den Westen dokumentierte. Der angegebene Grund war vage: "Unterstützung und Verwaltung außerpolitischer Verwaltungsfragen im westlichen Verwaltungsbezirk von Seehaven." Das Schreiben war voller Phrasen, die nichts sagten – ein klassischer Versuch, jemanden elegant, aber effektiv aufs politische Abstellgleis zu schieben.

Daneben lag ein weiterer Brief mit gebrochener Wachssiegel mit dem Wappen von Haus Peleps auf dünn gewalztem Seidenpapier. Die Handschrift war elegant und streng.

"Renjiro, mein Sohn. Ich habe von deiner Scheidung erfahren. Du hast Haus Peleps Schande gemacht. Was glaubst du, wie man deine Naivität in der Hauptstadt aufgenommen hat? Du hast zugelassen, dass die Tochter von V'Neef sich von dir trennt – mit einem Skandal, der noch lange nachhallen wird. Du hast sie gedemütigt, indem du ihren Handel enttarntest, anstatt es dem Familienrat zu überlassen. Du hast dein Haus nicht beschützt, du hast es entblößt. Ich hoffe, die Stille des Westens belehrt dich. Und du lernst, zu dienen, bevor du wieder zu sprechen wagst."

Valeria hielt den Brief lange in der Hand. Ihre Finger glitten über die sorgfältig geschwungenen Schriftzeichen. Jemand, der für Gerechtigkeit einstand, selbst wenn es seine Position kostete. Das war kein Schwächling. Es war jemand, der mutig und ehrlich war und sich um das Wohl andere scherte.

Ein leises Geräusch aus dem Flur ließ sie erstarren. Sie legte die Papiere zurück, schloss die Schublade und huschte zur Tür. Schritte, ruhig, aber zielgerichtet. Kein Zweifel: Jemand kam direkt auf das Studierzimmer zu und dieser jemand konnte nur Renjiro selbst sein.

Flucht durchs Fenster? Sie warf einen schnellen Blick zur Seite. Das Fenster wäre groß genug, doch die alte Holzverankerung knarzte schon beim kleinsten Windstoß. Wenn sie es öffnete, würde es unweigerlich Lärm machen. Zu viel Lärm. Also blieb nur eines: verbergen.

Rasch duckte sie sich in den Schatten eines schweren Regals, das direkt neben der Tür stand. Die Tür würde sich nach innen öffnen. Sie hoffte, dass sein Blick beim Eintreten nach vorne gerichtet wäre und nicht zur Seite. Dort, wo sie nun lauerte, wie ein geducktes Raubtier. Die Klinke bewegte sich. Mit kaum hörbarem Schaben öffnete sich die Tür langsam und unaufhörlich. Er trat ein. Valeria hielt den Atem an, presste sich flach an die Wand. Das Herz hämmernd gegen ihre Rippen wie ein Trommelschlag vor dem Angriff. Ihre Finger zitterten leicht und Panik breite sich in ihr aus. Er machte zwei Schritte in den Raum hinein und sah sie nicht. Das war ihre Gelegenheit für die Flucht. Die Türe war noch einen guten Spaltbreit geöffnet. Dort würde sie hindurchschlüpfen können. Ein Schritt, dann der zweite, fast geschafft. 

„Stehen bleiben.“ Seine Stimme war ruhig aber bestimmt. Ein kalter Befehl der jeden Widerstand gefrieren ließ. Verdammt, was sollte sie nun tun. Den ersten Kontakt mit ihm, hatte sie sich anders vorgestellt, mehr geplant und nicht auf Messers Schneide tanzend.

Sie fuhr herum. Seine Arme waren ruhig vor seiner Brust verschränkt, sein Blick war durchdringend. Sie saß in der Falle. „Was machst du hier?“, fragte er ruhig, doch sein Blick verengte sich leicht. Valeria hob die Hände ein Stück, nicht ergeben, aber beschwichtigend. „Ich… ich hab mich verlaufen, Herr. Ich wurde in die Küche geschickt, aber das Haus ist so groß, und dann… hab ich mich in der Tür geirrt.“

Renjiro schwieg einen Moment, trat näher an sie heran. Langsam und kontrolliert. Seine Augen glitten kurz an ihr hinab, dann wieder hoch. Er sah nichts Konkretes. Nur ein seltsames Gefühl, das ihn vorsichtig werden ließ. „Die Küche liegt zwei Stockwerke tiefer. Und auf der anderen Seite des Hauses.“ Valeria zuckte leicht mit den Schultern und senkte den Blick. „Man hat mir den Weg nicht erklärt, ich dachte… ich such einfach selbst. Ich wollte keinen Umstand machen.“

Ein schiefer, fast müder Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Und dabei hast du dich ins Studierzimmer verirrt.“ Es war keine Frage. Eher eine Feststellung, die irgendwo zwischen Misstrauen und Ironie balancierte. Sie erwiderte nichts, weil jede Antwort sie tiefer hineinziehen würde. Stattdessen hielt sie ihren Blick demütig gesenkt. 

Renjiro musterte sie lange. „Weißt du, was ich seltsam finde?“ Valeria hob den Blick nur leicht, sagte nichts.

„Jemand, der sich verlaufen hat, hätte spätestens beim ersten Blick auf die Bücherregale gemerkt, dass dies nicht die Küche ist. Das heißt die Türe wäre kurz auf und wieder zugegangen. Den Klang der Türe hätte ich gehört, da ich bereits eine gewisse Zeit auf dem Gang war.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Aber ich bin den ganzen Gang hinaufgekommen habe nichts gehört. Keine Schritte, kein hastiges Umsehen, du warst längst hier.“

Valeria presste die Lippen aufeinander. „Und wenn du wirklich zum Haus gehörst…“, fuhr er leise fort, „dann wüsstest du, auch am ersten Tag, dass dieser Flügel ausschließlich meine persönlichen Gemächer beinhaltet und dass Bedienstete ohne ausdrückliche Erlaubnis nur tagsüber Zugang haben. Niemals abends und niemals allein.“ Er ließ das letzte Wort einen Moment in der Luft hängen. Dann trat er einen weiteren Schritt näher, jetzt stand er direkt vor ihr und sie konnte seinen Atem auf ihrer Haut spüren. „Also frage ich noch einmal. Diesmal mit Nachdruck: Wer bist du? Und was suchst du in meinem Arbeitszimmer?“ Sein Blick war scharf und durchdringend. Kein Lautwerden. Die Kälte in seiner Stimme schnitt schärfer als ein Dolch.

Valeria atmete flach ein. Noch immer schlug ihr Herz wie ein wildes Tier in der Brust, aber sie zwang sich zur Ruhe. Es hatte keinen Sinn mehr zu lügen.  „Ich… arbeite nicht für dich,“ sagte sie schließlich, leise, aber klar. Renjiros Brauen zogen sich zusammen, seine Augen funkelten aber noch behielt er die Ruhe und hörte zu. Jedoch wanderte seine Hand unauffällig zu seinem Dolch in der Scheide an seinem Gürtel.

„Ich habe Gerüchte gehört, dass du dich für die Feldarbeiter einsetzt.“ Ihre Stimme war ruhig, aber fest. Sie wich seinem Blick nicht aus. „Ich wollte wissen, ob es wahr ist. Ob ihr wirklich versucht, gegen diese Ungerechtigkeit, die das Realm hier auslebt, anzugehen.“ Er bewegte sich nicht. Keine Reaktion. Nur Stille. Die Art von Stille, die mehr sagte als tausend Worte. „Ich konnte es nicht glauben. Ein Dragonblooded, der sich für diese Leute einsetzt und nicht ausbeutet oder ... abschlachtet?“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Das klang zu gut, um wahr zu sein. Und ich wollte sichergehen, bevor ich den Fehler mache, mit jemandem zu sprechen, der mich verraten könnte.“

Nach diesen Worten wurde es still. Nur das leise rascheln von Renjiros Hand, welche sich wieder von seinem Dolch löste, war zu vernehmen. Valeria atmete tief durch, trat dann einen halben Schritt zur Seite, wobei sie ihre Hände sichtbar geöffnet hielt. „Der Moment, um mit ihnen zu sprechen, ist wohl früher gekommen als geplant.“

Renjiro musterte sie eine gefühlte Ewigkeit. Seine Miene war nicht leicht zu lesen – irgendwo zwischen kalkulierender Skepsis und stillem Interesse. Dann, ohne ein Wort, ging er an ihr vorbei, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Das Schloss klickte.

„Also gut“, sagte er. Seine Stimme war ruhig, beinahe neutral. „Du brichst in mein Haus ein. Lügest mich an. Und nun behauptest du, du hättest es nur getan, weil du sicher gehen wolltest, ob ich ein Herz habe oder ein arroganter Schnösel bin?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Glaubst du, das reicht, um mich davon abzuhalten, dich festsetzen zu lassen?“ Ein Moment Schweigen. Dann, mit fast schon spöttischem Ton: „Du kannst von Glück sprechen, dass du nicht von jemand anderem gefunden wurdest. Mein Majordomus wäre nicht so geneigt, dir zuzuhören." Ein kurzes schweigen, dann atmete er kurz ein und wieder aus, so als müsste er die aufkommende Wut in sich besänftigen. "Ich persönlich fühle mich aber deutlich im Nachteil. Anscheinend hast du Nachforschungen über mich angestellt und warst wohl der Schatten den ich die Vergangen Tage wahrgenommen habe, aber ich weiß absolut gar nichts über dich. Ebenso habe ich dich gerade dabei erwischt, wie du in mein Hauseingebrochen bist um, wie du selbst zugibst, Informationen über mich zu sammeln. Ich denke du tätest gut daran, mir schleunigst mitzuteilen wer du bist bevor ich weiter entscheide, ob ich dir länger zuhöre."

Valeria überlegte, wie sie nun weiter machte und das Gespräch lenken sollte. Zuerst verneigte sie sich tief, wie es vor einem Drachenblütigen geboten war. Eine Geste des Respekts, aber auch eine kleine Taktik. Wer sich beugt, wird manchmal unterschätzt. „Mein Name ist Shaeka,“ sagte sie ruhig. „Ich diene ... dem Reich.“ bei dem Wort dienen, verzog sie das Gesicht. Es schauderte ihr allein bei der Vorstellung und für das Schauspiel war es perfekt.

„Ich war an Bord jener Dschunke, als Ihr Peleps Naren abgeführt habt. Wir wussten zuvor nicht, was unsere Mission war, aber als ich euch gehört hatte, wurde mir schlecht. Ebenso habe ich gesehen wie Ihr ihn zur Rechenschaft gezogen habt, noch bevor das Schiff ablegen konnte und war euch so dankbar dafür.“ Sie hielt einen Moment inne, bevor sie fortfuhr: „Damals war ich verzweifelt, weil ich nicht wusste, wie ich als unwichtige Soldatin, etwas an den örtlichen Umständen, wie das Realm mit der Bevölkerung umgeht, verfahren sollte. Ich wusste nur, dass es falsch und ungerecht war aber was hätte ich denn schon groß ausrichten können.“ Um ihre gespielte Unsicherheit und Bekümmerung zu verdeutlichen, verschränkte sie die Arme vor dem Körper wie ein Schutzschild, vor dem Kummer und versuchte sich an den Überfall vor sieben Jahren auf dem Schiff ihrer Eltern zu erinnern, bei welchem zwei gute Mensch das Leben gelassen haben. Und dass alles um zu erreichen, dass ihre Stimme brach. „Ich habe Freunde unter den Einwohnern, die ich äußerst schätzte. Ich habe ihre Geschichten gehört, habe gesehen, wie das Reich sie behandelt und ausbeutet und als ich erkannt habe, dass auf sie auf See noch jagt gemacht wird, um den Einfluss des Realms zu stärken, ohne Rücksicht auf Verluste.“ Eine theatralische Pause folgte. "Ich wollte kein Teil mehr davon sein und ich gebe es auch zu, dass ich etwas dagegen unternehmen will." Ihre Stimme wurde leiser, aber nicht schwächer. "Ich kenne viele, die sich gegen diese Ungerechtigkeit auflehnen wollen, aber allein wären wir zu schwach. Und da kamt ihr mir in den Sinn. Ein Drachenblütiger der selbst gegen die Missstände vorgeht. Vielleicht könnten wir euch für unsere Sache begeistern.“ Wieder eine kurze Pause. Die Luft zwischen ihnen spannte sich, wie vor einem Gewitter.

„Ich bin nicht hier, um Euch zu hintergehen. Ich wollte wissen, ob Ihr wirklich... jemand seid, dem man vertrauen kann. Und wenn das stimmt, dann bitte ich Euch, mich nicht den Wachen auszuliefern.“ Sie atmete einmal tief durch, dann fügte sie hinzu: „Wenn Ihr den Menschen helfen wollt, lasst mich Euch helfen. Ich kenne die Menschen und die Umgebung sehr gut. Ich kann euch sagen, wo die Wurzeln faulen und ihr könnt mit unserer Hilfe vielleicht etwas daran ändern.“ 

Renjiro schwieg lange. So lange, dass man das Ticken der kleinen Standuhr auf dem Sekretär hörte, leise und gleichmäßig. Ein leiser Muskel arbeitete in seiner Wange. Dann,  ohne ein weiteres Wort, drehte er sich zur Tür und schob einen Riegel vor. Seine Haltung verriet, dass er verhindern wollte, das weitere Zuhörer den Raum betreten könnten. Dieses Gespräch war nun vertraulich.

Er kehrte zum Schreibtisch zurück, öffnete ein kleines Schränkchen an der Seite und holte eine schlichte, elegante Karaffe hervor. In ihr schwappte eine klare Flüssigkeit, kaum merklich rosa, wie flüssiges Glas mit einem Hauch Kirschblüte. Dynast’s Grace. Nur wer Geschmack hatte oder aus dem Haus der Drachen stammte konnte sich so etwas leisten. 

Er schenkte zwei Gläser ein. Kein weiteres Wort trat währenddessen über seine Lippen. Er wirkte lediglich tief in Gedanken versunken über das Gesagte. Dann stellte er das eine Glas vor sich, das andere auf die gegenüberliegende Seite des niedrigen Tisches, an einen Platz, der eindeutig für Gäste vorgesehen war. Er selbst setzte sich erst, nachdem er leicht mit dem Kopf in die Richtung des Stuhls gewiesen hatte. „Setzt dich.“ Es war eine Mischung aus einer Einladung und einem Befehl. Er ließ den Blick nicht von ihr, während sie sich niederließ. Würde sie es wagen, sich doch noch feindlich ihm gegenüber zu verhalten, wäre er gefasst darauf. Dann nahm er selbst einen Schluck. Wieder diese Stille, wie bei einem Mann, der lieber beobachtete, bevor er sprach. „Es gibt viele, welche ihre Eigennützigen Vorhaben hinter faulender Gerechtigkeit verstecken ...“ sagte er schließlich. „Aber nur sehr wenige, die bereit sind, dafür Risiken einzugehen.“ Er drehte sein Glas leicht in der Hand. „Ihr habt Euch in mein Haus geschlichen, mit einer Verkleidung, einer Lüge und sehr viel Glück. Ich wäre im Recht, Euch auszuliefern.“ Dann, das erste Mal, ein Anflug von Neugier. „Aber statt zu fliehen, bittest du mich um ein Gespräch. Und du sprichst, wenn ich dich richtig verstehe von Rebellion? Das ist gerade Hochverrat, den du begehst.“ Er lehnte sich zurück, die Fingerspitzen aneinandergelegt. Valeria hob den Blick und versuchte ihre Stimme ruhig und gefasst klingen zu lassen.

„Ich spreche nicht von Rebellion, ehrenwerter Renjiro. Jedenfalls nicht so, wie Ihr es vielleicht versteht.“ Sie legte die Hände auf den Tisch und hielt seinem Blick stand. „Was ich meine, ist keine offene Auflehnung, sondern der Versuch, etwas zu verändern. Im Verhalten des Reichs. In seiner Haltung gegenüber jenen, die unter seinem Schutz stehen sollten.“

Sie machte eine kurze Pause und sprach dann weiter. „Ihr habt Einfluss. Vielleicht nicht überall aber genug, um gehört zu werden. Ihr habt gezeigt, dass Euch das Schicksal der einfachen Leute nicht gleichgültig ist. Das allein macht Euch zu einem Mann mit Rückgrat, im Gegensatz zu vielen anderen des Hauses.“

Für einen Moment wandte sie den Blick ab. Ihre Stimme wurde etwas leiser, ohne an Klarheit zu verlieren. „Was auf dem Schiff beinahe geschehen wäre, ist keine Ausnahme gewesen. Es war nicht das erste Mal. Ich weiß, dass solche Angriffe schon länger vorkommen. Getarnt als Piratenüberfälle auf Handeslschiffe. Ganze Besatzungen werden ausgelöscht, weil es das Machtgefüge des Reichs festigt. Dieses Treiben geht so seit mindestens 7 Jahren.“

Renjiro musterte sie scharf, seine Augen prüften jedes Wort. "Du wirfst meinem Haus gerade vor blutrünstige Mörder zu sein, die für ihren Einfluss seit gut einem Jahrzent auf Zivilisten jagt machen? Hast du für diese extreme Anschuldigung auch Beweise?" - „Ich kenne jemanden, der überlebt hat“, entgegnete sie. „Eine Familie, die nur knapp entkommen konnte. Wenn Ihr versprecht, dass ihnen nichts geschieht, kann ich Euch zu ihnen bringen." Er schwieg, doch sein Interesse war nun nicht mehr zu leugnen. Er selbst wusste, dass die Häuser zu solchen Intrigen fähig waren, aber das sie so weit gehen würden ließ ihn erschaudern. Er würde diesen Beweis prüfen. Wenn er sich als wahr herausstellte, musste er etwas unternehmen. „Bringt mich zu dieser Familie. Ich verspreche, dass ihnen kein Haar gekrümmt wird – und dass ich ihre Worte mit der Ernsthaftigkeit anhöre, die sie verdienen. Aber wehe dir, wenn dies ein weiterer Trick ist.“

Valeria zögerte nur kurz, dann sagte sie ruhig: „In zwei Tagen nach Sonnenuntergang in Seehaven. Es gibt eine Taverne, das Tanzende Blatt. Dort verkehren hauptsächlich Einheimische. Keine auffällige Wahl, aber auch kein Ort, an dem Ihr allzu sehr aus dem Rahmen fallt, zumindest nicht, wenn Ihr Euch etwas schlichter kleidet.“

Ein feines Zucken ging über Renjiros Lippen, als hätte er den Hauch eines Lächelns unterdrückt. „Schlichter… Ich werde sehen, was sich machen lässt.“  - „Wenn Ihr kommt, bringe ich Euch zu der Familie. Aber nur, wenn Ihr allein seid.“ Sie hielt seinem Blick stand. Es sollte keine Drohung sein, nur der stille Hinweis, dass Vertrauen auf Gegenseitigkeit beruhte. Renjiro nickte langsam. „Zwei Tage. Das Tanzende Blatt. Ich werde dort sein.“

Dann stellte er sein Glas zur Seite, erhob sich und ging zur Tür. „Kommt. Ich begleite dich zum Dienstbotenausgang.“ Er öffnete die Tür und ließ sie zuerst hinaustreten, blieb aber dicht hinter ihr. Er wirkte nicht bedrohlich aber er wollte definitiv sicherstellen, dass sie nicht doch vor dem Verlassen, weiter im Haus herumstöberte. Gemeinsam gingen sie schweigend durch die schmalen Korridore, vorbei an dunklen Holztüren und stillen Räumen, bis sie schließlich an einer schmalen Hintertür ankamen, die in einen von Hecken eingefassten Pfad hinausführte. Ein schlichter Ausgang, fern der Frontflügel. Renjiro öffnete die Tür, ließ sie jedoch nicht sofort hindurch. Stattdessen sagte er ruhig:
„Ihr habt viel riskiert. Und Ihr habt meine Aufmerksamkeit. Aber das heißt noch nicht, dass ich Euch vertraue.“ Valeria erwiderte knapp: „Ich verlange kein Vertrauen. Nur eine Chance.“ Ein letztes Nicken.

Dann trat sie hinaus in die kühle Nacht und ließ das Anwesen lautlos hinter sich. Nachdem das Herrenhaus gut einen Kilometer hinter ihr lag, erlaubte sie sich aufzuatmen. Das war gerade noch gut gegangen. Jetzt musste sie nur ihre Familie dazu bringen, über den Überfall zu sprechen und mit ihnen durchgehen, was sie sagen durften und was nicht. Schließlich trug sie auch in einer anderen Form eine große Rolle dazu bei, wie sie überlebten, aber das sollte nicht so plakativ erzählt werden. 

Tee im Innenhof - 1en Tag vor dem Treffen

Die Nachmittagssonne tauchte den kleinen Innenhof des Corvalis-Hauses in warmes Licht. Auf dem niedrigen Holztisch zwischen ihnen dampften drei Tassen Tee – zart nach Ingwer und Zitrus duftend, wie Valeria ihn aus Kindertagen kannte.

Maelani hatte ihn sofort, freudestrahlend aufgebrüht, als Valeria überraschend aufgetaucht war. Ein Überraschungsbesuch ihrer Tochter, auch wenn sie in anderere Gestalt erscheint, ist immer ein Grund zu Freude für die Familie Corvalis. Nach einem lockeren und fröhlichen Geplaudere versuchte Valeria vorsichtig das Gespräch auf den bevorstehenden Besucht zu lenken. Je mehr sie erzählte, desto stiller wurden ihre Eltern.

„Ich will, dass ihr mit ihm redet“, begann Valeria schließlich, die Finger locker um ihre Teetasse gelegt. „Aber ihr müsst euch genau an das halten, was ich euch sage.“ Manako hob eine Braue. „Und welchen hohen Herren, des ach so großmütigen Reichs, dürfen wir empfangen, Valeria?“ Sie verstand den skeptischen und sarkastischen Komentar ihres Vaters. Das Realm hatte sich einen Dreck um ihre Leute gescheert, also war es nur logisch, das ihre Eltern bezweifelten, dass Renjiro anders sein sollte. Sie selbst war sich noch nicht einmal zu 100% sicher. Aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass alles gut werden würde. „Sein Name ist Renjiro Peleps. Und bevor ihr etwas fragt: Ich habe ihm nichts über mich verraten. Nicht meinen richtigen Namen, ihr seid Freunde von mir. Er kennt mich nur mit diesem Gesicht.“ Sie machte eine vielsagende Bewegung auf sich selbst, da sie gerade die Gestalt von Shaeka trug. "Er weiß auch nicht, dass ich auf diesem Schiff war. Ihr habt es mir nur erzählt und daher bringe ich ihn auch zu euch als Beweis für die Schandtaten des Realms." Maelani stellte ihre Tasse leise ab. „Und wir sollen ihm dann von dem Angriff erzählen, in der Hoffnung, dass er uns nicht dafür vors Gericht zieht. Denn letzten Endes leben wir noch und die Besatzung von Haus Peleps nicht mehr.“ Sie verstand die Angst von ihrer Mutter, aber egal was käme, sie würde nicht zulassen, dass ihre Eltern Probleme bekommen würden. "Wenn alle Stricke reisen, nehme ich euch mit zu Tia. Es wird euch so oder so nichts geschehen. Aber stellt euch vor, er hört euch zu und hier habe ich ein wirklich gutes Gefühl und nimmt das ernst und entscheidet sich etwas dagegen zu tun! Dann hätten wir jemanden des selben Hauses, was die Angriffe leitet, der auf unserer Seite ist und uns hilft." Beide schwiegen. Sie vertrauten ihrer Tochter aber das Ganze bereitete ihnen doch Kopfschmerzen. 

"Und was sollen wir denn dann sagen?", fragte ihre Mutter mit leichter Panik in der Stimme. "Du hast schließlich dafür gesorgt, dass wir überlebten. Das können wir aber nicht erzählen." Valeria überlegte kurz. „Ihr erzählt einfach, dass einer der Piraten versehentlich die Pulverkammer getroffen hat. Eine Explosion hat ein rießen Loch in das Heck deds Schiffes gerissen. Es war reines Glück, dass dies geschah bevor die komplette Manschaft abgeschlachtet wurde.“ Sie nahm einen Schluck Tee, ließ ihn wirken, bevor sie weitersprach. „Er ist nicht wie die anderen. Er hat einen anderen Blutsverwandten vom Schiff gezerrt, um zu verhindern, dass es ausläuft und die selbe Gräueltat verrichtet. Aber er ist trotzdem ein Sohn des Hauses Peleps und noch wird er vermutlich kritisch reagieren, wenn man zu offen sein Haus beschuldigt. Daher macht es deutlich, wessen abzeichen wir gefunden haben, aber lasst erst mal den Patos weg. Wir sehen dann wie er reagiert.“ Manoka schloss die Augen und atmete tief ein und wieder aus. "Da verlangst du sehr viel von uns meine kleine Schwalbe." Sie wusste, dass das keine Kleinigkeit war aber dennoch war das Treffen so unendlich wichtig und musste stattfinden. „Ich weiß, aber damit helft ihr, etwas zu ändern. Wenn er sieht, was das Reich hier anrichtet, wenn er es von Zeugen selbst hört, dann kann das etwas in Bewegung setzen.“

Es wurde einen Moment still. Dann seufzte Manako leise und schenkte den Tee nach. „Gut“, sagte sie. „Hoffen wir, dass dein Gefühl dich nicht täuscht." Dann schlug ihre Mutter theatralisch die Hände über ihr Gesicht zusammen. Es war klar, dass diese Geste die bedrückende Stimmung auflockern sollte. "Was soll ich ihm denn nur servieren. Wir haben doch gar nichts was für so eine hohe Herrschaft passend ist." Valeria lachte. "Ich bin mir sicher, das dieser Tee ..." und sie deutete auf ihre Tasse, "... passend sein wird. Vielleicht noch ein wenig Gebäck? Er weiß das er nicht am Hof ist."  Danach tratschten sie noch ein wenig und irgendwann verabschiedete sich Valeria wieder, um alles für den nächsten Tag in Gedanken noch einmal durchzugehen.

Das Gespräch

Das Tanzende Blatt lag etwas abseits der belebtesten Gassen Seehavens. Keine Spelunke, aber auch keine noble Herberge – eher ein ehrliches Haus mit Fischsuppe, gekühltem Palmwein und Geschichten, die am Feuer ein wenig größer wurden, als sie wirklich waren. An den Wänden hingen alte Netze, Muschelkörbe und bemalte Masken. Ein paar Tische standen auf der offenen Veranda, drinnen klirrten Krüge, Stimmen summten, und irgendwo spielte jemand eine einfache Melodie auf einer Laute.

Renjiro trat ein.

Er hatte sein sonst so makelloses Gewand gegen eine schlichtere Tunika getauscht, den Wappenring abgelegt und das Haar zurückgebunden. Noch immer sah man ihm an, dass er nicht von hier war, seine Haltung zeugte von einer adeligen Herkunft. Sie war zu aufrecht, zu erhaben und er selbst wirkte zu wachsam. Aber mit dieser Kleidung viel er zumindest nicht zu extrem auf. Ein paar Köpfe drehten sich, als er eintrat. Nicht aus Misstrauen, eher aus Neugier. Fremde kamen hier nicht oft her und Dynasten noch seltener.

Hinter dem Tresen stand ein bärtiger Mann mit wettergegerbter Haut und einem ruhigen Blick. Renjiro trat zu ihm, ließ den Blick kurz schweifen, dann sagte er:
„Ich suche jemanden. Mir wurde gesagt, ich solle den Wirt nach einem Gespräch fragen.“

Der Mann musterte ihn stumm, als wollte er abschätzen, ob dieser Besucher zu der Person passte, von der man ihm erzählt hatte. Dann nickte er knapp, wischte sich die Hände an einem Tuch ab und deutete mit dem Kopf in Richtung einer der hinteren Sitzecken, halb abgeschirmt durch einen hölzernen Paravent. „Setzt Euch. Ich sage Bescheid.“

Renjiro nickte knapp, ging hinüber und nahm Platz. Er lehnte sich nicht an, hielt den Rücken gerade, die Hände locker auf dem Tisch. Kein Soldat, der einen Hinterhalt fürchtete, aber typisch für jemand, der es gewohnt war, sich stehts unter Kontrolle zu halten. Wenige Minuten später trat eine Frau an seine Seite.

„Ihr seid also wirklich gekommen.“, sagte sie leise. Es war Valeria in der Gestalt Shaekas, folglich das selbe Gesicht wie bei ihrem nächtlichen Gespräch in seinem Studierzimmer. Sie trug heute ein einfaches, dunkles Gewand, das gut zu den anderen Gästen passte, das Haar locker gebunden, das Gesicht ruhig, fast gelassen. Er nickte zur Begrüßung. In seinen Augen lag eine gewisse Distanz aber Neugierde. „Kommt“, sagte sie nur und wandte sich um. Keine weiteren Worte, keine Erklärungen. Sie wusste, dass es besser war, hier keine Aufmerksamkeit zu erregen. Renjiro erhob sich und folgte ihr in die schmalen Gassen Seehavens.

Der Weg durch Seehaven war ruhig. Die Sonne war bereits hinter den Dächern verschwunden, aber ihre letzten Strahlen malten noch goldene Kanten auf die Mauern. Shaeka führte Renjiro durch die vertrauten Hinterwege, fernab der Hauptstraßen. Vom Boden stieg eine angeneheme Wärme empor und in der Ferne bellte ein Hund. Niemand beachtete sie.

Schließlich blieb sie vor einem niedrigen Tor stehen. Dahinter lag ein kleiner Hof, von grünem Rankwerk überwachsen, in der Mitte ein Brunnen, daneben ein gedeckter Sitzplatz aus Bambus und hellem Holz. Die Fensterläden des Hauses standen offen, aus dem Inneren drang der vertraute Duft von Ingwertee und gebackenem Kokosgebäck.

„Wir sind da“, sagte sie schlicht, bevor sie sich umwandte, den Riegel zurückschob und Renjiro einließ. Drinnen warteten Maelani und Manako Corvalis bereits. Beide waren schlicht gekleidet, aber ordentlich. Manako stand an der Wand mit verschränkten Armen, während Maelani gerade eine heiße Kanne Tee auf den niedrigen Tisch stellte.

Als Valeria mit Renjiro vor ihren Eltern stand stellte sie ihn vor: „Seid gegrüßt, das ist Renjiro Peleps, der Drachenblütige des Realms, welcher eure Geschichte hören wollte“ ihre Eltern verneigten sich tief, so wie es sich vor einem Drachenblütigen gehörte. "Ebenso darf ich meine Freunde Manoka und Maelani Corvalis vorstellen. Sie sind die Überlebenden von einem der vielen Überfälle auf Zivileschiffe." Auch er nickte leicht zur Begrüßung. Hurtig zog Manoka einen Stuhl für ihn zurecht und bot ihm an sich zu setzten. „Wir hoffen, unser Tee genügt auch einem ehrenhaften Gast wie Euch.“  mit diesen Worten bot ihm Maelani eine Tasse Tee an den er dankend annahm. "Ich danke euch, dasss ihr mich in eurem heim empfangt und mir eure Geschichte zu erzählen." So setzten sich die vier und begannen das Gespräch. "Ich bin gewillt mir eure Geschichte anzuhören, was ich mit diesen Informationen im Anschluss danach mache, entscheide ich dann. Ich verspreche aber, das dieses Gespräch keinen Nachteil für euch sein wird." Diese Worte aus dem Mund von Renjiro entspannten Manako und Maelani sichtlich. 

Manako räusperte sich: "Vor ca. 10 Jahren kamen bereits Gerüchte auf das blutrünstige Piratenangriffe auf zivile Schiffe, in diesen Gewässern, von statten gingen. Hierzu müsst ihr wissen, dass Piratenangriffe keine Seltenheit waren. Allerdings waren diese zufrieden, wenn man ihnen Schutzgeld gab. Sie machten ein wenig tamtam und zogen dann wieder von dannen. Aber sie mordeten nicht. Das änderte sich mit diesen "neuen" Angriffen." Maelani nickte bekräftigend und übernahm das Gespräch. "Vor sechs Jahren geschah es dann. Wir waren gerade mit unserem Schiff unterwegs zu einer kleinen Nachbarinsel. Auf hoher See wurden wir angegriffen. Wie gewohnt bereiteten wir das Schutzgeld vor, doch wir konnten gar nicht so schnell schauen, als das erste Crewmitglied fiel. Ohne Vorwarnung oder den üblichen Verhandlungen. Da wussten wir, dass die Gerüchte stimmten. Sie machten auch keine Anstallten etwas von uns zu verlangen. Es war klar sie wollten uns an die Kehle." Maelani stockte der Atem. Die Erinnerung übermannte sie. Ihr ganzer Körper begann zu zittern. Beruhigend legte ihr Mann seine Hand auf die ihre und sprach ruhig weiter, um seiner Frau zeit zu geben, sich zu beruhigen. "Insgesamt haben wir zwei treue Crewmitglieder, allesamt Freunde und unsere Tochter verloren. Sie wurden allesamt Kaltblütig von diesen Piraten ermordet." Manako machte eine kurze Pause um selbst mit seinen Gefühlen fertig zu werden. Gründlich prüfte währenddessen Renjiro ihre Gesichter. Je mehr sie erzählten und je mehr er ihre Reaktionen sah desto mehr wurde ihm bewusst, das sie ihn nicht an der Nase herumführten. Diese Leute sprachen die Wahrheit. Maelani begann zu schluchtzen. "Unsere Tochter hat sich wutentbrand auf einen der Männer gestürtzt. Vermutlich hat sie in ihrem Zorn einfach die Kontrolle verloren. Sie hat erbittert mit diesem ... Mörder gerungen und ihm eine Brosche von der Brust gerissen, bevor er sie erschossen hatte." Tränen kullerten über ihre Wangen. Valeria war überrascht wie gut ihre Mutter schauspielern konnte. Manako drückte kurz die Hand seiner Frau und stand auf. Es klang so als würde er etwas aus einer Schublade im Wohnbereich holen. Als er wieder kam hatte er einen Brosche in der Hand die er dem Drachenblütigen überreichte. "Das war die Brosche, welche sie von seiner Kleidung gerissen hatte." Die Brosche war aus Jade gearbeitet und zeigte das Wappen des Hauses Peleps. "Es starben noch weitere Piraten bevor sich ein Schuss löste und anscheinend die Pulverkammer des Schiffs getroffen hatte, denn eine Explusion zerlöcherte das Heck des Schiffs und nahm alle weiteren mit in die Tiefe. Das war unser Glück, dass wir überlebten. Aber den Verlust den wir erlitten hatten ..." Maelani schluchzte erneut. "Er wiegt schwer." Manako übernahm das weitere Gespräch. "Wir haben danach einige der Leichend es Piratenschiffs auf weiter abzweichen geprüft und einige weitere trugen das Zeichen ihres Hauses." Ob ihre Eltern das wirklich gemacht hatten, wusste Valeria nicht, aber die Darbietung war sehr überzeugend. Aber sie hatten 2 Jahre in dem Glauben gelebt ihre Tochter bei diesem Unglück verloren zu haben. Auch wenn sie jetzt in anderer Form wieder neben ihnen saß. Die Schmerzen waren wohl immer noch sehr greifbar. 

Renjiro prüfte die Brosche eingehend. Seine Miene blieb dabei neutral, fast reglos. Nur an dem kaum wahrnehmbaren Spannen seines Kiefers ließ sich erkennen, dass ihn das, was er sah, nicht kaltließ.

„Ein Marineabzeichen aus Jade des Hauses Peleps.“, sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu den Anwesenden. „Das Abzeichen eines Marineoffiziers, mittleren Ranges. Authentisch.“ Dann sah er auf – seine Augen suchten die von Manako, und schließlich die von Maelani. Für einen Moment war das rascheln der Blätter im Wind zu hören.

„Ich verstehe“, sagte er schließlich ruhig. Seine Stimme war kontrolliert, aber nicht kalt. „Ich danke Euch, dass Ihr mir das erzählt habt. Und dass Ihr bereit wart, mir zu vertrauen. Ich weiß, wie schwer es sein muss, darüber zu sprechen – ganz besonders angesichts dessen, was Ihr verloren habt.“

Er legte die Brosche vorsichtig auf den kleinen Tisch, neben seiner Teeschale und faltete die Hände. „Es steht mir nicht zu, über eure Trauer Worte zu verlieren, doch ich will Euch versichern: Das, was Ihr mir berichtet habt... wird nicht ungehört verhallen.“ Er hielt kurz inne. „Ich bin ein Sohn des Hauses Peleps. Und es wäre leicht, diese Brosche als Einzelfall abzutun, als Zufall, ein erbeutetes Abzeichen oder ein Trick der Feinde des Reiches. So lauten die bequemen Antworten, die viele wählen würden.“
Er sah jetzt Valeria an, nicht so, als hätte er Verdacht geschöpft, sondern als würde er prüfen, wie ernst ihr die Sache war. Dann wandte er sich wieder dem trauenrden Paar zu.

„Aber ich bin auch ein Mann, der sein Gewissen nicht an der Türschwelle der Dynastie abgibt. Und was Ihr mir schildert, deckt sich in beunruhigender Weise mit anderen Dingen, die ich gesehen oder gehört habe. Gerüchte, die ich zu lange ignoriert habe. Taten, die mein Haus nicht begehen dürfte und dennoch vielleicht begangen hat.“

Sein Blick wurde schmaler, er begab sich auf dünnes Eis mit seiner letzten Äußerung. Es war klar, dass er sich nicht weiter aus dem Fenster lehnen konnte ohne sein Haus in Verruf zu bringen. „Ich werde prüfen lassen, woher diese Brosche stammt. Ob sie registriert ist. Wer sie getragen haben könnte. Und wenn sich dabei Anhaltspunkte ergeben, die das, was Ihr mir erzählt habt, stützen… dann werde ich handeln.“ Er sprach das letzte Wort mit einer Entschlossenheit, die nicht laut sein musste, um ernst zu wirken.

Dann stand er auf als Zeichen, dass das Gespräch, aus seiner Sicht, seinem Ende entgegenging. „Ich werde dieses Zeichen als Beweis mitnehmen. Wenn es Euch recht ist.“ Er sah Maelani an, die mit leicht zitternden Händen nickte. „Danke.“ Er senkte respektvoll das Haupt, nicht zu tief, aber für einen Drachenblütigen war es mehr als bloße Höflichkeit. „Ihr habt mir heute mehr gegeben, als ihr vielleicht ahnt. Ich danke Euch für Euren Mut und Eure Ehrlichkeit.“ Dann wandte er sich Valeria zu und für einen Moment wirkte sein Blick prüfend, es schien das er ihren Besuch und Erscheinen neu abwog. „Ich werde Euch aufsuchen, wenn ich mehr weiß“, sagte er nur. Dann verließ er das Corvalis-Haus mit kontrollierten, aufrechten Schritten. 

Als die drei sicher waren, dass er gegangen war, schaute Valeria ihre Eltern an. "Mir war nicht klar, dass der Schmerz aus den zwei Jahren noch tief in euch sitzt, dass ihr sofort Tränen in den Augen habt. Es tut mir so unendlich leid, dass ich euch das angetan habe!"

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